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Grenzüberschreitungen

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Die Menschen

Eindrücke aus dem Kosovo
von Robert Hansen


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Sechs Monate auf Friedensmission in Militäruniform. Angestellt von der Swisscoy. Arbeit für die Bundeswehr. Auf Reportage für die Zeitschrift Dritarja. 2001/2002. 

Ich erhielt einen tiefen Einblick in ein fremdes Land mitten in Europa. Ich durfte über Grenzen gehen, den zwischen Kosovo-Albanern und Serben gespannten Stacheldraht wegschieben, Grenzen überschreiten. Dies und jenseits der Grenzen lernte ich gastfreundliche Menschen kennen. Und ich hörte Geschichten von Krieg und Leid, Hoffnung und Wiederaufbau. Ein subjektiver Einblick in ein Land voller Widersprüche.
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«Mädchen werden nichts»

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Die rote und blaue Schminke ist dick aufgetragen, die Haare sind gekonnt geföhnt und hochgesteckt, das perlenbestickte Kleid leuchtet. Die Braut ist schön, der Bräutigam lächelt gestellt. Samile zeigt stolz das Bild und drückt ihren Finger auf ihre ein Jahr ältere Freundin. «Sie hat im Sommer geheiratet», sagt Samile, berichtet von dem grossen Fest im Dorf, lacht und holt weitere bereits verblichene Fotos aus dem wackeligen Holzschrank. «Alle haben gesagt, nun sei ich an der Reihe.» Samile verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse. Sie ist 14 Jahre alt. «Du hast schon noch ein wenig Zeit», mischt sich ihr Grossvater Sadre ein und setzt sich auf den Stuhl. «Du sollst erst mit 18 heiraten.» Der alte Mann rückt seine wollene Kopfbedeckung zurecht. Sein Gesicht ist braungegerbt. Seine Frau, die gerade das Mittagessen zubereitet, hat er vor 45 Jahren geheiratet. Sie war damals auch 18.  

Samile wohnt in einem kleinen Bergdorf nahe der albanischen Grenze. Der Boden gibt das Nötigste her. «Hier wachsen Tomaten, Kürbisse, Gurken, Mais und Weizen», sagt Samile. Einige Felder sind fachmännisch bestellt. Andere sind von Pflanzen überwuchert. «Da liegen Minen», weiss das Mädchen. Das Gebiet war hart umkämpft, die UÇK verschanzte sich in der bergigen Gegend, die Serben setzten die Häuser der Albaner in Brand. Auch jenes von Samile. Vor dem Krieg wohnten 1000 Menschen mehr im Dorf. Verdienstmöglichkeiten haben heute auch die Verbleibenden keine. Samiles Vater sucht in Kroatien nach Arbeit.  

Samiles Grossmutter Hajrije stapft in das Wohnzimmer und trägt eine riesige Platte Spinatkuchen auf der Hand. Taschentücher dienen als Servietten, die Handbewegung soll bedeuten, sich zu bedienen. Dann stellt Hajrije Plastikbecher voller Trinkyogurt auf den Tisch. «Das ist meiner Grossmutter peinlich, nichts Besseres zu servieren», sagt Samile entschuldigend – Yogurt und Kuchen munden vorzüglich und Hajrije freut sich über den gesunden Appetit. Nur Samile isst nichts. «Diät». Mager ist auch die Kuh. «Sie gibt nur zwei Liter Milch am Tag. Fleisch essen wir nur einmal im Jahr», sagt Samile.  

Der Winter steht vor der Tür. «Wir können kein Holz schlagen, weil wir Angst haben, dass im Wald noch Minen sind», sagt Samile. Vor dem Haus innerhalb der Mauern liegen einige armdicke Äste und zersägte Baumstämme. Der Wald an der steilen Bergflanke verliert sein Laub. An einer über den Balkon gespannten Leine flattern Kleider im kühlen Wind. Das Wasser für die Wäsche musste Samile vom Brunnen zum Haus hinaufschleppen. Das Mädchen hat gelernt, ein einfaches Leben zu leben.  

Samile besucht das letzte Schuljahr. «Wir sind 46 Schüler in einem Raum, alle Altersgruppen zusammen.» In die Mittelschule will sie nicht. «Meine Cousinen würden nur eifersüchtig. Und ich habe gehört, dass man dort nur herumsitzt. Deshalb will ich nicht gehen.» Zukunftsaussichten? «Ich würde lieber bei einem Friseur arbeiten und mich ausbilden lassen. Aber die 30 Euro im Monat können wir uns nicht leisten.» Samile überlegt. «Ich werde auf meine vier Schwestern aufpassen, weil ich die älteste bin. Und dann möchte ich Hausfrau werden.» Keine weitere Ausbildung? «Wir Mädchen werden nichts.»  

Samile sitzt neben ihrem Grossvater auf dem Stuhl. Der alte Mann hat viele Menschen aufwachsen gesehen. «Ich habe 13 Enkelkinder», sagt er stolz. Er zählt nur die Kinder seiner Söhne. Und jene seiner Töchter – er zögert. «Die haben 15 Kinder». Sadre wirkt unsicher. Ein Mädchen verlässt bei der Heirat die eigene Familie und zieht zur Grossfamilie ihres Mannes. Samile wird später ihre Schwestern nur noch selten sehen. Und ihre Eltern wird sie wohl auch durch zwei Bilder im Wandschrank in Erinnerung behalten – wie das schon ihre Mutter tut. Die Fotos sind vergilbt.










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«Während der Arbeit darf ich nicht an meine Frau denken»

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Bevis Chitongo aus Zimbabwe lacht über das ganze Gesicht. Er hatte grosses Glück – er verlor nur zwei seiner Zehen. Vor fünf Tagen ist er bei seiner Arbeit auf eine Personenmine getreten. Nun sitzt er vor dem deutschen Feldlazarett in der prallen Spätsommersonne. «Nein, Minen entfernen ist kein gefährlicher Job», winkt er ab. «Wenn man sich an die Regeln hält, kann überhaupt nichts passieren. Wir werden bei der Firma Minetec sehr gut ausgebildet, bisher hat niemand von unserem Team sein Leben verloren. Höchstens ein Bein.» Zehntausende Minen haben das serbische Militär und albanische Freischärler und Schmuggler im Kosovo verlegt. Mit Millionenbudgets werden diese wieder entfernt. «Ich räume schon sieben Jahre Minen, zuerst in Mocambique, nun seit zwei Jahren im Kosovo. Das ist mein erster Unfall. Und ich werde wieder arbeiten gehen, sobald ich kann.» Den Ort an der Grenze zu Albanien, wo der Unfall geschehen ist, nennen die Minensucher sinnigerweise «Killing field».  

Bevis ist 28 Jahre alt. «Ich habe meinen Brüdern gesagt, sie sollen auch Minen entschärfen. Wenn sie von meinem Unfall hören, werden sie wohl nicht kommen. Aber diese Arbeit ist wirklich sehr befriedigend.» Er sagt das so glaubwürdig wie ein seriöser Arbeitsvermittler. Zwei Schläuche kommen aus seinem dick eingebundenen Fuss. Dunkles Blut rinnt in einen Kunststoffbeutel. «Ich trat auf eine PMA 3. Plastikgehäuse, sehr empfindlich und schwer zu finden. Aber dieser Typ ist nicht so gefährlich. Da verliert man nur einen Körperteil, vielleicht den Fuss. Springminen sind die gefährlichsten Minen. Da ist man sofort tot.» Nur wenige Kilogramm Druck reichen, um den Zünder auszulösen. Bevis hat im Kosovo bereits 700 Minen gefunden. «Ja, für die Bevölkerung eines betroffenen Landes sind Minen schon eine heimtückische Waffe. Aber man braucht Leute, die Minen legen, damit wir wieder Arbeit haben.» Die Arbeit wird den Minenräumern nie im Leben ausgehen. An die Explosion erinnert sich Bevis Chitongo noch gut. Er merkte zuerst gar nicht, dass er selber auf eine Mine getreten war. «Ich legte geschnittenes Gras hinter mir auf den Boden und muss mit dem Fuss die Latte verschoben haben, welche das bereits kontrollierte Gebiet kennzeichnet», sagt er so gleichgültig, wie wenn er die Gebrauchsanleitung eines Mixers erklären würde. «Ich hatte an diesem Tag bereits 42 Minen gefunden. Die 43. hat mich getroffen. Bumm. Und das eine Viertelstunde vor Arbeitsende. Ich schnürte meinen Schuh auf und sah eine tiefe Schramme zwischen den Zehen. Der Fuss blutete jedoch nicht stark.»  

Bevis wartete nicht lange auf Hilfe. Zuerst mussten seine Kollegen aus Sicherheitsgründen jedoch den Weg zu ihm nochmals nach Minen absuchen, bevor sie sich um den Verletzten kümmern konnten. «Der Arzt gab mir 50 Meter von der Unfallstelle entfernt eine Injektion, dann kam der Hubschrauber. Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Sieben Stunden nach der Operation bin ich auf einem Krankenhausbett aufgewacht.»  

Die Herbstsonne lässt Schweissperlen über seine Stirn rinnen. «Man muss bei der Arbeit sehr konzentriert sein. Alkohol ist verboten und im Minenfeld herrscht absolutes Rauchverbot», erzählt Bevis von seiner Arbeit. «Wir arbeiten rund fünf Stunden am Tag. Dabei darf ich nicht an meine Mutter oder meine Frau denken, sondern nur an die Mine.» Neben dem weiss bezogenen Bett liegt eine abgegriffene Ausgabe des Playboy. Seine Frau und die beiden Söhne besucht Bevis im Dezember wieder. «Wir können alle drei bis sechs Monate nach Hause fliegen.» Der Arzt kommt auf Visite und schaut sich den Fuss an. Morgen wird Bevis Chitongo erneut operiert. Alleine diese Woche haben sich drei Minensucher bei ihrer Arbeit verletzt, einer im Gesicht und an den Augen, einer hat ein Bein verloren. Eine Serbin ist gestorben, als sie auf eine Sprengfalle getreten ist.










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Eine Zukunft mit wenigen Perspektiven

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Die Schreibmaschine hat nur sieben Tasten. Ejup sucht mit seinen Fingern die richtige Kombination, er drückt kraftvoll und fühlt danach den Buchstaben, den er geschrieben hat – A. Seine Fingerspitzen gleiten über das dicke Papier, danach greift der zehnjährige Junge wieder zu den langen Tasten, braucht einige Sekunden, um die richtigen zu finden – B. Er schreibt und liest laut vor, was die meisten Menschen nicht verstehen. Was die Menschen in Büchern und Zeitungen lesen und schreiben, wird er nie sehen. Ejup ist blind – C.  

«Auf der Strasse sind sehr wenige Blinde zu sehen», sagt Lisa Müller. Dabei kann die 22-jährige Frau aus der Schweiz selbst nichts sehen. «Im Kosovo können sich Blinde nicht alleine bewegen, weil sich die Umgebung dauernd verändert, die Strassen werden aufgerissen und neue Häuser gebaut.» In den Räumlichkeiten der Blindenschule von Pec braucht Lisa keine Hilfe mehr. Seit drei Monaten arbeitet sie mit den Kindern am tragbaren Computer, den sie mitgebracht hat. Ein besonderer Computer: Jede Eingabe quittiert dieser mit Worten und vor der Tastatur können die Finger fühlen, was für die Augen unsichtbar auf dem Bildschirm steht. «Ich bin in der Schweiz privilegiert. Hier erhalten Blinde nur wenig Hilfe. Was ich gelernt habe, möchte ich weitergeben», begründet Lisa ihre Motivation, für einige Monate in der Blindenschule von Pec zu arbeiten.  

Die Jugendlichen bereiten sich hier auf eine Zukunft mit wenigen Perspektiven vor. «Für Blinde ist es sehr schwierig, einer Beschäftigung nachzugehen», sagt Lisa. Wenige arbeiten in einer Telefonzentrale, in einem Krankenhaus oder als Physiotherapeut. Auch im Privatleben sind Sehbehinderte benachteiligt. Gerade jene Menschen, die am meisten auf Hilfe angewiesen sind, finden nur schwer einen Lebenspartner, jemand, der sie durch das Leben begleitet: «Frauen, die nicht sehen können, haben hier einen sehr niedrigen Marktwert», meint Lisa. «Weil Blinde hier keinen Beruf ausüben können, sind sie in den Augen vieler Menschen nichts wert. Die Einstellung gegenüber den Blinden muss sich ändern», betont Lisa, die in der Schweiz als Übersetzerin arbeiten will und entsprechende Lehrgänge besucht.  

Ein autoritärer Doktor führt die einzige Blindenschule im Kosovo und ist für die derzeit 54 Kinder verantwortlich. Mehr als die Hälfte von ihnen sieht überhaupt nichts, die anderen können die Welt um sie herum wenigstens schemenhaft erkennen. «Ich bin seit 21 Jahren Direktor», sagt Xheladin Deda stolz. Seine Einrichtung kann sich sehen lassen. Die Räume sind sauber, die Zimmer gut ausgerüstet mit von Hilfsorganisationen gespendeten elektronischen Apparaten, nur die Bibliothek mit ihren 4000 Büchern veraltet immer mehr. Bücher in Blindenschrift und in albanischer Sprache werden seit zehn Jahren nicht mehr gedruckt. Xheladin Deda blickt in eine düstere Zukunft. Er kämpft um Geld, damit er seine Schule weiterhin betreiben kann. Die Kommunen bezahlen seit dem Krieg nichts mehr, Stromrechnungen über 30 000 Euro sind noch nicht beglichen und das Geld für die Nahrungsmittel fehlt. Deda führte einen inneren Kampf, als der Krieg tobte. «Ich musste in der Schule bleiben, die zeitweise auch als Flüchtlingsheim genutzt wurde. Doch ich konnte die sechs Mädchen und vier Jungen nicht alleine lassen. Ich habe um mein Leben gefürchtet. In unserer Strasse verschwanden während einer Nacht 64 Menschen. Niemand weiss, wo sie sind», erzählt Xheladin Deda.  

Ein Opfer des Krieges lebt heute in der Schule. Der Mann muss im Alter von 34 Jahren nochmals lesen lernen. Er hat für die UCK gekämpft und ist im Wald auf eine Mine getreten. Vom Haaransatz bis zum Kinn ist eine Narbe zu sehen. Während der 30-stündigen Operation wurde das ganze Gesicht weggeklappt. Diese hat er überlebt. Das Augenlicht kommt nie mehr zurück.










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Zwölf Frauen nähen an ihrer Zukunft

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Adela zieht mit einer Kreide einen weissen Strich über das giftgrüne Tuch und drückt auf das Lineal. Bernadette Schmid schaut mit kritischen Blicken zu. Die Lehrerin aus der Schweiz bildet in einem Nähatlier in Prizren zwölf Frauen im Alter von 15 bis 34 Jahren zu diplomierten Damenschneiderinnen aus. Liridona schneidet mit der Schere zaghaft entlang des Striches, Zentimeter um Zentimeter. Das Tuch wird zu einer Operationsschürze, die einmal ein Arzt im Krankenhaus von Prizren tragen wird. Bereits im ersten Jahr der Ausbildung schneidern die jungen Frauen Kleider, welche auch verkauft werden. 50 Euro Monatslohn erhalten die Lehrlinge. «Die Arbeit bereitet mir sehr viel Freude. Ich habe bereits Röcke, Blusen und Kleider für mich genäht», sagt die 18-jährige Mirlinde. «Ich möchte auch nach meiner Ausbildung in diesem Beruf tätig sein und ein eigenes Geschäft führen.»  

Mirlinde hat sieben Jahre in der Schweiz gelebt, bis ihre Familie vor einem Jahr ausgewiesen wurde und in den Kosovo zurückkehren musste. Für die junge Frau war damals eine Welt zusammengebrochen. Sie hatte bereits zwei Schnupperlehren absolviert und wollte unbedingt Damenschneiderin werden. Das war im Kosovo nicht möglich. Oder doch? Ihre frühere Oberstufenlehrerin Margaritha Büchel suchte nach Wegen, wie Mirlinde zu einem eigenen Atelier kommen könnte.  

Die in der Ostschweiz beheimatete Schule sammelte Nähmaschinen, Fäden, Knöpfe und Büsten, womit in Prizren ein Baucontainer ausgerüstet wurde. Margaritha Büchel reiste in das Kosovo, gründete daraufhin den Verein Ylber und konnte innerhalb kurzer Zeit das notwendige Geld sammeln, um das Nähatelier einzurichten. Sie mietete ein Haus in der Stadt, wo die Frauen aus der Schweiz wohnen und die Lehrlinge unentgeltlich ausbilden. «Wir wollen talentierten Frauen eine Lehrstelle anbieten, die es sonst im Kosovo nicht gibt», sagt die Initiatorin. Im Gang hängen Faserpelzpullover für Kinder und bunte Taschen, an den Kleiderständern warten halbfertige Röcke. «Wo musst Du den Strich durchziehen?», fragt Bernadette Schmid mit strengem Ton. «Drei Zentimeter entfernt vom Schnittmuster», sagt Liridona, ihre 67-jährige Lehrerin nickt geduldig. Sie hat in der Schweiz in 27 Jahren 100 Damenschneiderinnen ausgebildet.  

«Die Frauen sollen lernen, präzise zu arbeiten, damit die Kleider auch einmal in anderen Ländern verkauft werden können», sagt Bernadette Schmid, die bereits ein halbes Jahr im Kosovo ist und ihre Aufgabe sehr ernst nimmt. Sie zeigt den Frauen, wie ein Schnittmuster hergestellt wird, wie die Stoffe verarbeitet werden, welche Farben zusammenpassen und welche verschiedenen modischen Schnitte ein Kleid haben kann.  

«Viele der Mädchen haben noch nie eine Nähmaschine gesehen. Aber sie sind alle begabt und machen grosse Fortschritte», lobt Bernadette Schmid. Ihr Ziel ist, Kleinstserien von einigen Dutzend Stück einmal in Weltläden in Mitteleuropa zu verkaufen, damit die Lehrwerkstatt zu den dringend benötigten eigenen finanziellen Mitteln kommt. Ausserdem unterstützen nach vielen Anfragen der Initiatorin verschiedene Hilfswerke aus Deutschland und der Schweiz das Projekt. Überzeugungsarbeit musste auch bei den Eltern der Mädchen geleistet werden. Nicht alle sahen ein, warum ihre Tochter einen Beruf erlernen soll.  

Das Hemd der 15-jährigen Adela ist sauber gearbeitet, das Karreemuster passt an den Nähten aber überhaupt nicht zusammen. «Die Frauen lernen in den kommenden beiden Jahren ihre Technik zu verfeinern», sagt Bernadette Schmid. Adela, die aus Deutschland in den Kosovo zurückgekommen ist, möchte einmal ein eigenes Geschäft eröffnen: «Ich wollte unbedingt hierher in die Ausbildung kommen.» Ihre Augen leuchten.










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Die Flucht aus der Heimat

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Zehntausende Menschen waren während des Krieges im Kosovo auf der Flucht, verfolgt von mordenden Banden und Militärs. Tausende Menschen werden seither vermisst. Unzählige Menschen überlebten den Beschuss, versteckten sich in den Bergen, durchquerten Minenfelder. Sie suchten im Wald und während der Dunkelheit einen Weg nach Albanien und fuhren in überladenen Booten über das Mittelmeer. Die dabei durchlebte Todesangst werden sie nie mehr vergessen. Auch Pranvera nicht.  

Die junge Frau erzählt nüchtern. «In der Zeitung habe ich immer wieder gelesen, dass Menschen bei ethnischen Auseinandersetzungen getötet werden. Die Studenten demonstrierten in Pristina, die Stimmung war gespannt. Im Dezember 1997 besuchte ich nach dem Gymnasium für drei Monate meinen Bruder Fari in der Schweiz. Damals verschlechterte sich die Situation in meiner Heimat, die Menschen spürten, dass es Krieg geben könnte. Aber ich wollte nicht in der Schweiz bleiben, ich wollte zurück in mein Dorf Mrasor nahe Orahovac, zurück zu meinen Eltern und meiner Schwester und eigentlich in Pristina ein Journalistik-Studium beginnen. Der Abschied von meinem Bruder war sehr schwer, weil ich nicht wusste, ob ich ihn je wiedersehen werde, ob ich vielleicht sterben werde. Er hat mich zum Flughafen Zürich begleitet und wir haben beide geweint. Dann bin ich losgelaufen und habe nicht mehr zurückgeschaut. Vor mir war ein Weg voller Angst. So bin ich im März 1998 nach meinen Ferien in das Kosovo zurückgekommen. Dann ist der Krieg ausgebrochen.»  

Pranvera denkt nach. «Ich bin in Pristina gelandet und anschliessend mit dem Zug weiter in mein Dorf gereist. An jeder Strasse standen serbische Polizisten. Aus dem Zugfenster habe ich im Wald Kämpfer der UÇK gesehen. In unserem Dorf war es einen Monat lang ruhig, aber wir konnten nicht mehr herumreisen. Ich war die ganze Zeit nur in unserem Haus. Dann griffen die serbischen Truppen ein Dorf ganz in der Nähe an, und wir wussten, dass sie auch zu uns kommen. 30 Familien flüchteten in den nahen Wald in den Bergen, wo wir zwei Wochen verbrachten. Das war für mich eine sehr schwierige Zeit. Wir bauten uns Hütten aus Plastikplanen, tagelang fiel Regen, aber wir mussten glücklicherweise nicht frieren. Ich schlief in einem Auto. Anfangs hatten wir noch genügend zu essen, wir hatten Mehl und Öl dabei und konnten in einem mitgebrachten Ofen auch backen. Aber wir lebten angsterfüllt, hörten immer wieder Explosionen, die Serben haben auch mit Granatwerfern zu uns in den Wald geschossen. Die Soldaten habe ich jedoch nie gesehen.»  

Pranvera schaut mit einem ernsten Blick. «Die Nahrungsmittel gingen uns aus und wir konnten nicht länger in unserem Versteck bleiben. So sind wir zu unserem Onkel nach Malisevo gegangen. Drei Monate konnten wir in einem Zimmer seines Hauses wohnen. Dort vernahmen wir, dass unser Dorf vollständig zerstört ist und sich die Serben dort einquartiert haben. Wir wussten nicht mehr, was wir machen sollten. Im Haus meines Onkel war nicht genügend Platz. Meine Schwester und ich entschlossen uns, in die Schweiz zu unserem Bruder zu reisen. Wir besassen beide einen jugoslawischen Pass. Meine Mutter hatte jedoch keine Dokumente, weshalb mein Vater sich entschied, bei ihr im Kosovo zu bleiben.»  

Pranvera zeigt keine Gefühlsregung: «Es war eine Nacht im September. Wir sind zusammen mit meinem Vater die ganze Nacht durch den Wald gelaufen. 100 oder mehr Menschen waren dort unterwegs. Es war stockdunkel und ich wusste nicht, wo wir hingehen und wir hatten grosse Angst, auf Minen zu treten. UÇK-Kämpfer begleiteten uns zur albanischen Grenze. Dort verabschiedete ich mich von meinem Vater. Das war sehr schwer, alles musste schnell gehen. Ich werde diese schrecklichen Momente nie in meinem Leben vergessen.» 

Grenzerfahrungen
Pranvera hat in ihrem Leben viele Grenzen überschritten. Während der Reise nach Deutschland, als sie ihre dort verheiratete Schwester besuchte, beim Flug in die Schweiz, wo sie ihr Bruder erwartete. Während einer Septembernacht 1998 überschritt die damals 21-jährige Pranvera eigene Grenzen. Erstmals stand sie in Albanien. Hinter ihr lag alles Vertraute, das in der bisherigen Form vom Krieg zerstört wurde. Vor ihr lag ein Weg in die Ungewissheit.
  
Pranvera sucht nach Worten. «Wir sind die ganze Nacht gelaufen, ich habe nur noch geweint. Doch ich war für meine fünf Jahre jüngere Schwester verantwortlich. Am Morgen sind wir in der albanischen Grenzstadt Kukes angekommen. Ein Mann hat uns gegen Bezahlung nach Durres gefahren. In der Hafenstadt am Mittelmeer sind wir von einem Freund meines Vaters bereits erwartet worden. Zwei Wochen wohnten wir bei ihm, dann haben wir unsere Reise in Richtung Schweiz fortgesetzt. Freunde von ihm organisierten einen Platz auf einem Schiff. 600 Mark pro Person bezahlten wir für die nächtliche Überfahrt nach Italien. Das Boot war mit 30 Personen völlig überladen und ich hatte grosse Angst. Schliesslich sind wir um vier Uhr am Morgen in Italien angekommen. Weil das Boot nirgends anlegen konnte, wateten wir durch das seichte Wasser an den Strand. Wir wussten nicht, wo genau wir waren – irgendwo in der Nähe von Brindisi. Zusammen mit einer Familie, die wir auf dem Boot kennengelernt hatten, schlugen wir uns zu einer grossen Strasse durch. Dort nahm uns ein Autofahrer mit. Für die Fahrt nach Milano verlangte er 200 Mark pro Person. Mit dem Zug reisten wir weiter nach Como. Dort waren viele Flüchtlinge aus dem Kosovo. Und albanische Schlepper. 1000 Mark haben wir ihnen gegeben, um über die grüne Grenze in die Schweiz zu kommen.»  

Pranvera schmunzelt. «Die Männer haben uns auch ein wenig Schweizer Geld gegeben. Wir wären in einer Wechselstube oder einer Bank sofort aufgefallen und von der Polizei aufgegriffen worden. Ich habe dann von einem öffentlichen Telefon aus meinen Bruder angerufen, der uns mit dem Auto holen kam.» Pranvera war in Sicherheit.  

Viele der aus dem Kosovo flüchtenden Menschen hatten bereits Verwandte in der Schweiz und in Deutschland. Familienväter schickten in den Neunzigerjahren ihre Söhne in das Ausland, um dort Geld zu verdienen – und einen Teil davon für den Unterhalt der Grossfamilie in das Kosovo zu überweisen. Viele Wirtschaftsflüchtlinge – insbesondere Männer – ersuchten bereits vor dem Ausbruch des Krieges um Asyl. Sie wähnten zudem die zurückgelassenen Frauen und Kinder trotz steigender Spannungen in Sicherheit. Nach den Angriffen der serbischen Truppen machten sich ganze Familien auf den beschwerlichen und teuren Weg in den Norden, um bei ihren Familienmitgliedern Unterschlupf zu suchen.  

Die verstärkt im Südtessin eingesetzten 160 Grenzwächter und die zusätzlichen 40 Festungswächter des Militärs konnten längst nicht alle Flüchtlinge beim illegalen Grenzübertritt aufgreifen und nach Italien zurückschieben. Die in Norditalien operierenden Schlepper waren gut organisiert, kannten alle Schleichwege durch die Hügel oberhalb des Bahnhofs von Chiasso und meldeten mit Handys jede anrückende Streife. Währenddem diese einen Mann verhaftete, kamen zehn unbemerkt über die Grenze. Ziel war für die meisten das Flüchtlings-Empfangszentrum in Chiasso. Einmal dort angekommen, hatte die Polizei keine Möglichkeit mehr, die Person auszuweisen. Ihr war Kost und Logis zumindest während der Monate dauernden Verfahren sicher. Während den Kriegsmonaten erreichte der Flüchtlingsstrom ein neues Ausmass – und löste eine grosse Welle der Solidarität aus. In der Schweiz wurden 50 000 Menschen vorübergehend aufgenommen. Deutschland gewährte 14 700 Flüchtlingen Asyl.    

Asyl in der Schweiz

850 000 Menschen sind aus dem Kosovo geflüchtet. Unter ihnen war auch Pranvera.  

Sie erinnert sich an eine schwierige Zeit. «Vera und ich waren bereits einen Monat bei unserem Bruder in Bern, als wir schliesslich in das Basler Asyl-Aufnahmezentrum gingen. Zwei Wochen sind wir dort geblieben. Wir lebten mit Menschen unterschiedlichster Nationen zusammen, wir waren zwölf Frauen in einem Zimmer. Am Morgen wurden wir immer sehr früh geweckt. Ein Polizist kam in den Raum und schrie: ‹Sechs Uhr, aufstehen›. Ich habe seine eklige Stimme noch heute im Ohr. Wir wurden untersucht, geimpft und kamen nach zwei Wochen nach Hinterkappeln in ein Haus. Dort wohnten wir zusammen mit vier Familien einen Monat lang. Meinen Bruder habe ich jedes Wochenende gesehen. Mein Vater hat drei Wochen nach unserer Flucht aus dem Kosovo angerufen und sich sehr gefreut, als er wusste, dass seine Kinder alle wohlbehalten im Ausland sind. ‹Jetzt bin ich ruhig›, hatte er zu meinem Bruder gesagt.»
  
Pranvera spricht pausenlos. «Dann lebten wir sechs Monate lang zusammen mit über 100 Menschen verschiedener Nationen in Schüpbach im Emmental. Das war eine lange und langweilige Zeit. Ich hätte gerne gearbeitet, durfte aber nicht. Die Einheimischen waren uns gegenüber reserviert, wir kamen mit ihnen praktisch nicht in Kontakt. In der Unterkunft wurden wir aber gut betreut. Grosse Sorgen machte ich mir um meine Eltern, denn ich hatte ein halbes Jahr lang nichts mehr von ihnen gehört. Jede Nacht habe ich meine Mutter im Traum gesehen. Mein Herz sagte mir, dass sie noch leben, doch mein Verstand sagte mir, dass sie vielleicht tot sind. Jeden Morgen, wenn ich aufgewacht bin, musste ich weinen. Die Zeit, als die NATO ihre Angriffe flog, war sehr schlimm für uns. Wir hörten, dass serbische Truppen aus Rache auch Frauen und Kinder verschleppen und viele Zivilisten umbringen.»

Pranveras Augen glänzen. «Meinen Eltern gelang die Flucht nach Mazedonien. Dort hat mein Vater uns endlich anrufen können. Die europäischen Länder nahmen viele Flüchtlinge auf, meine Eltern wurden mit dem Flugzeug schliesslich nach Holland gebracht und reisten weiter in die Schweiz – was ich aber nicht wusste. Eines Tages kam unser Bruder und holte uns ab. Als ich das Wohnzimmer betrat, sassen dort meine Eltern. Ich war so überrascht und glücklich. Wir haben uns lange umarmt. Sie haben ebenfalls in Basel einen Asylantrag gestellt.  

Unsere Familie erhielt in Rüderswil-Schachen ein Haus, und die Gemeinde hat mir sogar erlaubt, im Altersheim von Ranflüh zu arbeiten. Im Tannligerhaus verbrachte ich eine sehr gute Zeit und der Heimleiter setzte sich dafür ein, dass ich bei ihm eine Ausbildung als Krankenpflegerin machen kann. Doch als Asylbewerberin wurde mir das in der Schweiz nicht erlaubt. Schliesslich wurde unsere ganze Familie ausgewiesen. Der Abschied im Altersheim war sehr schwierig. – Ich weiss nicht, ob die Menschen heute noch leben.»  

Pranvera schaut nachdenklich. «Im Juni 2000 sind meine Eltern, meine Schwester und ich zurück in das Kosovo gekommen. Mit einem Taxi fuhren wir in unser Dorf. Überall sahen wir Uniformen. Die KFOR half beim Wiederaufbau, aber unser Haus war völlig zerstört. Die Zeit war sehr schön und gleichzeitig schwierig für mich, ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte. Sollte ich mich um einen Studienplatz bemühen oder arbeiten? Ich versuchte in Prizren eine Arbeit zu finden, die ich bei der KFOR auch fand. Seit August 2000 arbeite ich im Feldlager-Lazarett als Übersetzerin. Studieren werde ich jetzt wohl nicht mehr können. Aber ich möchte eine Ausbildung zur Krankenschwester absolvieren. In Deutschland. Oder in der Schweiz. Hier gibt es viel zu viele Krankenschwestern. Und zu wenig anständige Männer.»










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 Warten auf neue Eltern

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Das Bett ist viel zu gross für Rilind. Er streckt seine wulstigen Finger in die Höhe und bewegt seine Hände. Seine Blicke wandern nicht, das Gesicht wirkt kalt, wie versteinert. Neben ihm grinst ein weisser Teddybär. Rilind lächelt nicht, er ist hungrig. Seine Mutter wird ihn gar nie anlächeln. Vor zwei Monaten hat sie ihn in die Welt gesetzt, dann ist sie gegangen, aus dem Zimmer, aus dem Hospital, aus seinem Leben.  

«Auf unserer Abteilung liegen derzeit 31 Säuglinge, die von ihren Müttern verlassen worden sind», sagt Sejdullah Hoxha, Direktor der Gynäkologieklinik in Pristina. «Die Frauen sind meist jung, nicht verheiratet oder ohne Ausbildung», erzählt der Arzt. «Hier werden am Tag durchschnittlich 44 Kinder geboren. Da fällt nicht auf, wenn eine Frau aus der Klinik geht.» Jene Frauen, die ihre Kinder verlassen wollen, schreiben sich zuvor mit falschen Personalien ein, warten nach der Geburt einen günstigen Zeitpunkt ab, packen ihre Sachen und gehen. «Wir haben letztes Jahr 67 solcher Waisenkinder betreut», sagt Sejdullah Hoxha. «Immerhin ist es besser, die Kinder hier bei uns zu lassen, als auf der Strasse zu gebären.» Drei Krankenschwestern sind dauernd anwesend, um sich um die Säuglinge zu sorgen. «Wir haben viel zu wenig Personal», betont der Arzt. «Doch wir tun alles in unserer Macht stehende, damit es den Kindern hier gut geht. Wenn wir uns nicht um sie sorgen, wer dann sonst», fragt er. Säuglinge, derer sich niemand annimmt, werden verhaltensgestört, haben Alpträume. «Das ist die Pflicht der Gesellschaft, sie an einen sicheren Ort zu bringen und für sie zu sorgen, denn wir alle sind jetzt ihre Eltern. Wir müssen für sie familiäre Verhältnisse schaffen, eine Familie improvisieren.» Die Babys sollten trotzdem höchstens sechs Monate im Krankenhaus bleiben. «Wir sind hier nicht richtig für die Betreuung von Säuglingen eingerichtet, wir sind ein normales Hospital», sagt der Arzt. Zudem habe seine Abteilung viel zu wenige geeignete Betten. «Der Älteste hier ist 18 Monate alt, der Jüngste gerade einmal vier Tage», sagt Lushe Berisha. Die Krankenschwester bückt sich zum Bett von Rilind und nimmt das Häufchen Leben in die Arme. Liebevoll streicht sie über den Kopf und führt die Trinkflasche an den Mund. Rilind saugt die Milch gierig in sich hinein und schmatzt. Beide sind zufrieden. Dafür beginnt Nita fürchterlich zu schreien, strampelt unter ihrer Decke.

Trotzdem tun sich die Schwestern manchmal schwer damit, wenn sie einen Säugling durch die ersten Monate seines Lebens begleitet haben und ihn dann aus den Augen verlieren: «Manche weinen, wenn die Kinder uns verlassen», erzählt Krankenschwester Lushe Berisha, die seit einem halben Jahr auf der Station arbeitet. Verschiedene Institutionen nehmen sich den Kindern an. Einige bekommen in einem SOS-Kinderdorf einen Platz, andere werden von Hilfsorganisationen betreut oder von Familien adoptiert. Allerdings verbietet das Gesetz, die Kinder ins Ausland zu geben. Zu gross ist die Angst, dass die Säuglinge in falsche Hände geraten. Für Organe werden horrende Preise bezahlt.  

«Einige Mütter lassen ihre Babys wegen eines Ehestreites zurück. Manchmal versöhnen sich die Eltern wieder und kommen ihr Kind abholen. Wir hatten elf solcher Fälle in diesem Jahr, den letzten am vergangenen Freitag, als die Eltern ihren zehn Tage alten Sohn abholten. Das sind die besten Momente», erzählt Sejdullah Hoxha. Sie lächelt, legt Rilind wieder in sein Bett zurück und deckt ihn zu. Die anderen Kinder schreien um Milch. Rilind schliesst seine Augen, zuckt und schläft ein. Er weiss noch nichts von dieser Welt. Irgend einmal wird ihm jemand erklären, dass seine Mutter ihn nicht wollte. Er wird sie trotzdem vermissen.










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80 Prozent der Stromrechnungen werden nicht bezahlt

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Die Männer sind unter sich – stämmige Burschen. Unter den verschmutzten Ärmeln zeichnen sich Muskeln ab, die nicht in einem Fitnessstudio gestählt worden sind. Die Sprüche sind deftig. «Die ist nicht viel wert. Sie ist zu jung», sagt Roland. Er spricht über Braunkohle. Staub sitzt in seinen zottigen Barthaaren, der Helm ist verschmutzt, die Brillengläser lassen keine klare Sicht zu. Seine Hände sind gelb, seine Fingernägel schwarz. Hinter ihm drückt brauner Rauch aus einem Kamin. Vier weitere recken wie gigantische Finger in den Himmel. Die Rauchwolke zeigt die Windrichtung, kilometerweit.  

Kosova A ist ein trostloser Industriekomplex westlich von Pristina und produziert Strom – sowie Husten. Das Atmen fällt schwer. «Wir haben hier im Auftrag eines Weltbankprojektes drei Monate lang neue Filter eingebaut. Die können mit neuster Ultraschalltechnologie 40 Tonnen Asche pro Stunde aus der Abluft holen», macht Roland Hoffnung. Und zerstört diese gleich wieder. «Die nachfolgenden völlig veralten Aggregate können diese Mengen gar nicht aufnehmen.»  

Neben dem Kohlekraftwerk haben sich im Laufe der Jahrzehnte regelrechte Berge von Asche aufgetürmt. «Pro Stunde können im Volllastbetrieb des Kraftwerkes 500 Tonnen verbrannt werden. 32 bis 35 Prozent fallen als Asche an», nennt Roland eindrückliche Zahlen, die trotzdem nicht glauben machen, dass diese Hügel von Menschenhand erschaffen sein sollen. Der Bagger auf dem Berg wirkt wie Spielzeug.  

Die Anlage wurde Anfang der 1960er-Jahre in Osttechnologie erbaut und dauernd erweitert. Durch die Hitze des Feuers wird Wasser zu Dampf erhitzt, der grosse Elektrogeneratoren antreibt. Wassertröpfchen steigen aus den Kühlanlagen. Die dazu benötigte Braunkohle gelangt über Förderbänder von der zwei Kilometer entfernten Grube zum Kraftwerk. Die Maschinen sind in einem maroden Zustand. Ein riesiges Schaufelrad trägt das Zwischenlager ab und transportiert den Energieträger in Richtung Fegefeuer. «Das wäre besser gewesen, Kosova A wäre im Krieg ebenfalls bombardiert worden. Das wäre eine elegante Lösung für die Probleme der Luftverschmutzung», sagen zynische Stimmen. Tatsächlich ist unverständlich, weshalb die alten Anlagen mit viel Geld saniert werden. Importierter Strom aus den Wasserkraftwerken von Albanien wäre günstiger und kommt schon heute in grossen Mengen über die Grenze. Das macht jedoch auch abhängig.  

Von den fünf Kraftwerk-Blocks ist meist nur einer in Betrieb. Nicht etwa, weil der Strom nicht benötigt würde. Die Produktion deckt den Bedarf des Kosovo bei weitem nicht. Hier kommt der Strom nur stundenweise aus der Steckdose, ansonsten dröhnen vor den Häusern und Geschäften die Generatoren. Die Kraftwerkbetreiberfirma KEK hat zu wenig Geld, um die Anlagen zu unterhalten. Die Direktoren wirtschaften in die eigene Tasche, wird gemunkelt, und deren Machenschaften erzürnen die Kunden. 80 Prozent der Strombezieher bezahlen ihre Rechnungen nicht. Die 1100 Angestellten sollten trotzdem ihr Gehalt erhalten.  

Diese Sorgen hat Roland nicht. Er ist bei einer deutschen Firma angestellt und leitet ein Team von 30 Einheimischen. «Die sind so viel wert wie sechs meiner Männer aus Deutschland», sagt der Meister. Aber sie kosten viel weniger. Das Salär der Hilfskräfte liegt bei 100 Euro pro Monat. Das verleitet niemanden zu Motivationsschüben. Zwei Arbeiter rollen gegen zwei Meter breiten Gummi aus. Auf dem neuen Förderband soll mehr Kohle zu den Öfen kommen. «Bei Volllastbetrieb gehen wohl pro Tag 50 Tonnen davon in die Luft», schätzt Roland. Verständlich, dass die Luft in der Umgebung von Pristina stinkt. Das wird sie noch lange. Roland fliegt nach vier Monaten Einsatz im Kosovo wieder nach Hause. 










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Wer Glück hat, ist sofort tot

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Goran drückt den dünnen Titandorn flach vor sich in den Boden. Ein Kilogramm Druck an der falschen Stelle reicht bereits, um eine Antipersonenmine PMA 3 zur Explosion zu bringen. 35 Gramm Trityl genügen, um einen Fuss oder eine Hand zu zerfetzen. Goran führt das Metall 30 Zentimeter hinein in das Erdreich und zieht den Stab zurück, immer wieder, versetzt alle drei Zentimeter, von links nach rechts, von rechts nach links, in einem ein Meter breiten Korridor. Der Dorn stösst plötzlich auf einen Widerstand. Liegt ein Stein im Boden? Oder ist dort eine Mine vergraben?    

25 Quadratmeter kann ein Minensucher pro Tag in diesem schwierigen Gelände mit Bäumen und Büschen absuchen. Zentimeter für Zentimeter arbeitet sich Goran vor, sucht zuerst mit einem feinen Stahldraht nach Stolperfallen, fährt mit dem hochsensiblen Metalldetektor über den Boden und nimmt dann wieder den Stab zur Hand. Keflargewebe schützt seinen Oberkörper, eine Plexiglasscheibe die Augen und das Gesicht. Konzentriertes Arbeiten ist der beste Schutz vor Unfällen. Zwei Meter vor Goran steht eine grün gespritze Splittermine PMR 2A. Ein feiner Stahldraht führt vom Auslösemechanismus weg in das Gebüsch. Drei Kilogramm Zug genügen und der Zünder wird aktiviert. Wenn die 100 Gramm Sprengstoff im Stahlmantel explodieren, ist Goran wohl tot. Wenn er Pech hat, nur schwer verletzt. Er würde verbluten. «Die PMR 2 sind immer durch kleinere im Boden vergrabene Minen des Typs PMA 3 geschützt», sagt der Bosnier. Diese sind nur schwer auszumachen. Das Gehäuse ist aus Kunststoff, einzig im Zünder steckt ein Metallstift, den die sensiblen Detektoren aufspüren können – zwei Gramm sind nicht einfach zu finden.  

«Unsere Teams haben in vier Wochen 4176 Quadratmeter abgesucht», sagt Rob Hallam. Der frühere Berufsoffizier der britischen Armee leitet ein Team nahe der albanischen Grenze. «107 Stück der PMA 3 und 23 PMR 2A haben wir hier bisher gefunden». Wöchentlich werden Notfallszenarien geübt. Plätze in der Nähe der Arbeiter sind mit Sanitätsmaterial und einer Bahre ausgerüstet. Die eingesetzten Teams sind immer über Funk zu erreichen. Ein Hubschrauberlandeplatz muss in der Nähe sein. Verhindert schlechtes Wetter einen Flug, wird auf dem Minenfeld auch nicht gearbeitet. Minenopfer müssen rasch behandelt und die Blutungen gestillt werden.  

Eine Mine! Das Klopfgeräusch auf dem Kunststoff ist für ihn unverkennbar. Goran nimmt eine kleine Schaufel, gräbt Steine und Humus vorsichtig ab, jede Bewegung will überlegt sein. Äusserst behutsam arbeitet er. Plötzlich kommt das mattgrüne Gehäuse zum Vorschein. «Ich muss schauen, ob die Mine mit einem zweiten Zünder versehen ist.» Sekunden werden zu einer kleinen Ewigkeit. Mit dem Finger greift Goran unter die Mine, zieht sie schliesslich sachte heraus und begutachtet sie. «Die war mindestens zwei Jahre im Boden.» Mit einem kleinen Werkzeug dreht er den Zünder aus dem Gehäuse. «Manchmal sind diese mit Klebstoff versehen und lassen sich nicht lösen. Dann müssen wir die Mine vor Ort sprengen.» Langsam dreht er das schwarze Teil so gross wie ein Daumennagel heraus. Die Mine ist entschärft. «Den Sprengstoff holen wir aus dem Gehäuse und verbrennen ihn. Das ist völlig ungefährlich. Nur in Kombination mit dem Primärzünder kann das Trityl explodieren.» Minensucher sprechen immer sehr gelassen von ihrer Arbeit. «Wer die Sicherheitsvorschriften einhält, lebt ungefährlich.» Und dann erzählt Goran trocken, dass Minen selten auch sehr heimtückisch verlegt werden, nicht flach im Boden vergraben, sondern hochkant. Dann drückt der Suchstift nicht seitlich auf das Gehäuse, sondern direkt auf den Zünder. Dann kann keine Sicherheitsregel die Explosion verhindern.  

Goran verdient im Monat 1250 Euro.










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Das Leben endet am Stacheldraht

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«KFOR Area. Betreten verboten! Vorsicht Schusswaffengebrauch.» Das Schild in Deutsch, Englisch, Albanisch und Serbisch ist unmissverständlich. Grenzen, wo noch vor kurzer Zeit keine Grenzen waren. Rollenweise Stacheldraht liegen zwischen zwei Häuserreihen und zwei Völkern. Der Wind wirbelt braune Blätter durch die Gasse, zwischen den Stahlspitzen hindurch, einige Blätter bleiben aufgespiesst hängen. Herbst.  

Die Hauswand ist schwarz, die Fensterscheiben sind zersplittert, der Verputz löst sich wie Zwiebelhäute ab, darunter sind Mörtel, Schilf und Steine sichtbar. Das Haus ist nicht mehr bewohnbar. Pflanzen wuchern aus den Ritzen, beginnen die Zerstörung zu verdecken. Wortloses Leben, wo sonst kein Leben mehr ist. Verkohlte Holzbalken sind Zeugen des erkalteten Hasses. Serben und Albaner haben sich während und nach dem Krieg gegenseitig die Lebensgrundlage zerstört. Wahllos. Sinnlos.  

Ein Haus weiter hinten ist bewohnt. Weinreben bilden ein Dach über die Gasse, auf einem verwitterten Holzbalkon wachsen Blumen, die Gasse ist fein säuberlich gewischt. Eine alte Frau sitzt auf einem an der Wand angelehnten roten Autositz. Sie schaut, winkt, lächelt. Ihr Mann steht auf, verbeugt sich. «Dobar dan» – «Guten Tag». Gesten, Wörter, zwei Welten, einige Augenblicke Gemeinsamkeit. Blicke treffen sich, Händeschütteln. Die Frau erhebt sich, schlurft über die Steine und verschwindet in der Eingangstür, um kurz darauf mit einer Schnapsflasche, Gläsern und türkischem Kaffee auf dem Tablett zurückzukommen. Gastfreundschaft ist Tradition, die Frau schüttet aus der Plastikflasche eine fast durchsichtige Flüssigkeit. Schwebstoffe setzen sich auf dem Glasboden ab. «Shivele», der Schnaps ist stark und tötet alle Bakterien ab. Die Frau nimmt einen Schluck und die Falten in ihrem Gesicht werden für einen Moment noch deutlicher. Vera ist Serbin. Sie wohnt schon viele Jahrzehnte hier, ihr ganzes Leben. Ein Leben, das heute fünf Meter von ihrem Haus entfernt vor dem Stacheldraht endet.  

Ihr Mann beginnt zu erzählen. Seine Gläser vor den Augen sind dick wie Flaschenböden, er rückt die Hornbrille auf seinem zerfurchten Gesicht zurecht. «Ich war Infanterist. Hauptmann.» Voja zieht sich an seinem Stock in die Höhe. Das Aufstehen bereitet ihm mit dem Alter immer mehr Mühe. Die Bilder in Schwarz und Weiss, die er holt, zeigen ihn und seine Frau. Sie charmant, jugendlich, schön. Er stramm, stolz, kraftvoll. Der Holzrahmen wird durch einfache Stahlklammern zusammengehalten. Zwei Kriege hat er erlebt, aber in keinem gekämpft. Vor 60 Jahren waren die deutschen Truppen die Todfeinde seines Landes. Vor zwei Jahren bombardierte die NATO seine Heimat. Heute beschützt die KFOR sein Leben. Eine deutsche Patrouille passiert, die beiden Soldaten grüssen kurz, die Sturmgewehre baumeln am Rücken, ein Hund wedelt mit dem Schwanz und rennt hinterher. Der alte Mann reicht einige Farbbilder herum. Sie zeigen seine Kinder und Enkelkinder. «Sohn. Tochter.» Der 70-jährige Voja plaudert, lacht, gestikuliert, erzählt lange Geschichten aus vergangenen Zeiten. «Wir haben unsere Kinder seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Doch wir haben ein Leben lang für unser Haus gearbeitet. Wir wollen diesen Ort nicht verlassen», sagt Voja. Heute braucht er Insulin. Vier Spritzen hat ihm der Arzt gegeben. «Meinem Mann geht es nicht mehr gut. Malato. Zuckerkrank», sagt seine Frau Vera. Herbst macht sich auch im eigenen Leben breit, die Kräfte lassen nach.  

Der Ruf des Muezzin hallt über die Dächer. Der blecherne Gesang macht auch an der Stacheldrahtgrenze nicht halt. Aber die Serben hören nicht hin. In den engen Gassen kündigt sich die Nacht an. Vera füllt das Schnapsglas nochmals auf. «Der Schnaps ist aus unseren Weintrauben hergestellt. Shivele».









  
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Das Militär









Die multinationale Truppe unter der Leitung der NATO kam 1999 nach dem Kosovokrieg in den Einsatz. Basis für das Mandat ist Resolution 1244 der vereinten Nationen, beschlossen am 10. Juni 1999. 40 Nationen waren zu Beginn mit 50 000 Soldaten beteiligt. Im Laufe der Jahre sank die Truppenstärke kontinuierlich. 2015 sind gegen 5000 Soldaten aus 31 Ländern im inzwischen eigenständigen Staat stationiert. Die Schweiz beteiligt sich mit einem Kontingent von rund 200 Soldtaten und ist primär in der Hauptstadt Pristina stationiert.
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Ein Leben in zwei Welten

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Neben den Strassen liegen Panzerminen, Banden überfallen Militärfahrzeuge, ein Verletzter verblutet nach einem Verkehrsunfall. Mit gestellten Szenen werden die Soldaten wochenlang auf ihren Einsatz im Kosovo vorbereitet, trainieren den Umgang mit der Waffe und üben, in welcher Situation auf einen Menschen geschossen werden muss. Die Soldaten werden im Kosovo mit einer ganz anderen Realität konfrontiert, denn der Krieg ist längst zu Ende. Blumenkränze schmücken die Gräber der erschossenen Freiheitskämpfer. Schüsse fallen meist bei Hochzeiten und Festen – in die Luft. Organisierte Kriminalität spielt sich in den Hinterhöfen und in Bordellen ab. Die Soldaten werden meist freundlich empfangen: Kinder winken den Militärfahrzeugen der KFOR lächelnd zu, Männer laden spontan zu einem Schnaps in ihr Haus. Die meisten gehen keiner regulären Arbeit nach, leiden unter der Armut und haben viel Zeit. Man braucht viel Zeit, um dieses Land, die Menschen und deren Mentalität nur ansatzweise zu verstehen.  

Die erlebten Gegensätze könnten nicht grösser sein: Der Aufbruch vom vertrauten Heim in eine mit Sandsäcken und Sichtsperren umgebene militärische Kleinstadt. Weg vom alltäglichen Luxus zuhause in ein Leben voller Einschränkungen. Abschied von Freunden und der Kontakt zu Neuen. Eine Reise im Militärgewand in ein früheres Kriegsgebiet, das sich ganz anders präsentiert als in den in Erinnerung gebliebenen Fernsehbildern. 1500 Kilometer liegen zwischen dem Kosovo und Zentraleuropa – zwei Welten. In der einen beginnt man sich langsam zurechtzufinden und entfernt sich gleichzeitig von der früheren.  

Das Militärcamp ist eine kleine in sich abgeschlossene Welt. Mit eigenem Kino und Friseursalon, mit einem Sportzelt und einer Küche mit vorgeschriebenem Menüplan. Mit Büros und Werkstätten, Fahrzeugen und Waffenkammern, mit einer Post und öffentlichen Telefonkabinen, mit Normbetten, befohlener Nachtruhe und Arbeitszeit. Mit Menschen unterschiedlichster Nationen in den selben tarnfarbigen Gewändern.  

«Ich habe hier keine Freunde, ich lebe hier sechs Monate mit mir zugeteilten Kameraden», sagt Hauptmann Chris Jörissen und lacht. Im Camp treffen persönliche Weltanschauungen aufeinander. Der Kochgehilfe kochte in Fünfsternehotels, der ihm Vorgesetzte kennt nur die Militärkantine. Der Lagerkommandant ist ein pensionierter Oberstleutnant von altem Schrot und Korn, der Hauptgefreite mitten im Studium ordnet sich nur mit Mühe in die strengen Militärstrukturen ein. Der grauhaarige Oberst hört gerne Beethoven, der kahlrasierte Unteroffizier steht auf die Bösen Onkelz. Alle wohnen sie gemeinsam in dieser neuen Welt, umgeben von Stacheldraht und zwei Soldaten am Ausgangstor, die nur jene passieren lassen, die draussen einen Auftrag haben. Alle treffen sie sich tagsüber bei der Arbeit, Abends im militäreigenen Restaurant und nachts auf der Vier-Mann-Stube. «Meine besten Freunde habe ich im Militär kennengelernt», sagt Jörissen.  

Der KFOR-Einsatz dauert für die meisten sechs Monate. Für die Soldaten, welche im Rahmen ihrer Arbeit mit der lokalen Bevölkerung zusammentreffen oder in der Führung interessante Aufgaben wahrnehmen, vergeht die Zeit schnell. Jene, die ihre Tätigkeiten ausschliesslich im Camp verrichten oder Tag und Nacht hinter einem Maschinengewehr im Wachhäuschen sitzen, warten im Kosovo eine kleine Ewigkeit. Sie haben unterschiedliche Blickwinkel auf die selbe Welt. Einige geniessen die Privilegien, aufgrund ihrer Aufgaben im Land herumfahren zu können. Andere stehen immer am Checkpoint Echo und schauen von aussen in die Wagen, tragen kugelsichere Westen und das Strumgewehr griffbereit. In Sichtweite steht eine rostige Tafel, welche die Truppen mit  aufgesprayten Buchstaben begrüsst: «Welkome NATO to Kosove».










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Blanke Autos und schwarze CD’s

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Die Autos der deutschen KFOR sind immer sauber gewaschen. Kosovo-Albaner haben neben einer Garage nahe des Feldlagers Prizren ein florierendes Geschäft aufgezogen: mit Hochdruckreinigern werden die Truppenfahrzeuge für einige Euro gründlich gewaschen, vom Wolf bis zum Luchs, vom Geländefahrzeug bis zum Radschützenpanzer – ob nun im Hochsommer Wasserknappheit herrscht oder im Winter das Putzmittel auf den Scheiben einfriert, ist Nebensache. Auf dem Platz herrscht immer Hochbetrieb. Und der Service ist gut: Anfahren, aussteigen, KFOR-Identitätskartennummer hinhalten und schon schiesst das Wasser aus den Düsen.  

Die Soldaten fahren nicht ausschliesslich der Sauberkeit wegen zum Waschen – und nicht alle Fahrzeuge hätten die Rundumreinigung wirklich nötig. Aber die Wartezeit lässt sich gut für eine 20-minütige Shoppingtour nutzen. Neben der Waschstrasse haben sich verschiedene Geschäfte in Holzhäusern niedergelassen. Sie verkaufen alle das selbe: Illegal auf Computern gebrannte Musik-CD’s. Produziert sind sie gut. Cover und Rückseite werden auf einem Laserkopierer angefertigt und sogar die CD selbst wird wie das Original bedruckt – inklusive dem Urheberrecht und dem Hinweis auf Strafandrohung, wer den Musikträger unerlaubt vervielfältigt. Die CD’s türmen sich stapelweise und liegen doch nicht lange. Denn der Preis ist äusserst interessant: Zwei Euro kostet das Stück, die Doppel-CD das doppelte. Auch das Angebot lässt sich sehen und hören. Die neusten Hits liegen postwendend in den Gestellen. Einzig die Beratung lässt zu wünschen übrig. Fragen werden meist mit einem Achselzucken quittiert, auch wenn das gesuchte Stück vielleicht irgendwo unter einer Staubschicht steht.  

Alles, was sich auf CD brennen lässt, wird kopiert. Auch die Auswahl an Playstation-Spielen ist immens – und die sind mit fünf Euro hier massiv günstiger zu haben als im Fachhandel zuhause. Manchmal über hundertfach billiger als das Original sind die feilgebotenen Computerprogramme. Diese kosten unabhängig vom Produkt zwei bis fünf Euro das Stück, die Seriennummer ist feinsäuberlich auf die Aussenhülle gedruckt. Vom Adobe Photoshop über Lotus Notes und dem Professional Windows-Officepaket bis zum neusten Betriebssystem. Ob das Programm ohne Online-Registrierung über das Internet auch nach einem Monat noch funktioniert, kann aber niemand so genau sagen. Wortlos wechseln Schmuddelvideos den Besitzer. Ebenfalls fünf Euro kosten diese oft privat produzierten Pornos, die weder für Augen noch Ohren einen Genuss darstellen. Auch die Darsteller dürften nicht allzuviel Spass gehabt haben.  

Nicht nur bei der Waschstrasse sind die Silberscheiben zu erwerben. Zwei Shops im Feldlager sind von den Soldaten immer gut frequentiert. Mager ist allerdings das Angebot, viel neue Eintagsfliegenmusik, aber selten Musik aus den 80ern und 90ern. Neuste Computerprogramme  werden wenige feilgeboten, Sexvideos keine. Dafür können die CD’s hier anstandslos umgetauscht werden, wenn der Spieler sie nicht erkennt oder die Musik abgehackt aus den Boxen dröhnt. Und das kommt recht häufig vor.    

Wer seine Plattensammlung komplettieren möchte, kann das im Kosovo so günstig tun wie nirgends sonst. Der tiefe Preis wird einzig mit dem fehlenden Booklet erkauft. Noch günstiger sind die CD’s bei den Strassenhändlern in Pristina zu haben. Ganze eineinhalb Euro kostet das Stück, einige Geschäfte in Prizren bieten für den selben Betrag an. Dabei kosten alleine die CD-Rohlinge, die Hüllen sowie die Farbkopie annähernd diesen Preis. Das grosse Geschäft macht wohl niemand, die Musikindustrie verdient gar nichts mehr. Profiteure sind für einmal die Kunden. In Deutschland kostet eine CD zwei durchschnittliche Tageslöhne eines Arbeiters im Kosovo.










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Mit 1000 Watt ans Ende der Welt

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«Land of confusion» von Genesis tönt aus den billigen Lautsprecherboxen. «Und ich bin wieder da für euch», sagt Hauptmann Georg Bordt. Er sitzt hinter dem Mikrofon und begrüsst im Namen des deutschen Truppensenders Radio Andernach seine Hörerinnen und Hörer – Albaner, Goraner, Türken, Bosnier, Serben. Der KFOR-Soldat sitzt nach einer zweistündigen Fahrt aus Prizren im Studio von Radio Sharri in Dragas. Jeweils am Sonntagabend moderiert er eine einstündige Wunschsendung auf 94.6 Megahertz.  

1000 Watt schickt der Sender aus der Bergregion im Süden des Kosovo in den Äther, täglich von 12 bis 24 Uhr. Die Glühbirne im engen Studio leuchtet bescheiden auf das Poster mit einem Liebespaar. Das Radio muss mit einfachen Mitteln auskommen: Kassetten-, CD- und MiniDisc-Spieler, Computer, ein altertümliches Mischpult. Die Wände der Sprechkabine sind mit Eierkartons zur Schallisolierung beklebt. «Bald erhalten wir eine moderne Einrichtung», schwärmt Redakteur Abaz Çengaj und hält eine Bestellliste in der Hand. Der neue Stereo-Sender und die Studioausrüstung kosten 18 000 Euro, finanziert vom deutschen Aussenministerium im Rahmen der Entwicklungshilfe.  

Nuhi schiebt die Regler nach oben. Madonna trällert ihr «Music», das Telefon im Studio schrillt. Selvije notiert Namen und Musikwunsch: «Nothing else matters von Metallica». Der Techniker drückt auf die Maustaste und schaut auf den Bildschirm. «Ja, das haben wir im Computer». Und wieder ruft jemand an und wünscht «Stranger» von Brithney Spears. Das führt der Computer nicht. Aber vielleicht das aus Prizren mitgebrachte Musikarchiv der KFOR? Über 100 CD’s liegen im Koffer, in der Computerdatenbank ist jedes Lied und die dazugehörige CD-Nummer verzeichnet. Schnelle Handgriffe im Licht der Taschenlampe, die CD liegt nach wenigen Sekunden im Spieler, die Regler fahren wieder nach oben. Hauptmann Bordt kündigt den Titel an und versucht sich mit dem Namen des Hörers. Albanisch ist nicht die Muttersprache des Moderators. Selvije lacht hinter der Glasscheibe.    

Abaz Çengaj arbeitet nicht nur bei Radio Sharri, er wohnt auch hier. Sein Bett hat er in einen Nebenraum gestellt. «Ich kann mir keine Wohnung leisten», sagt er. Die zehn Angestellten verdienen 150 Euro im Monat. Doch während der letzten vier Monate haben sie kein Geld mehr gesehen. «Natürlich arbeite ich weiter. Ein Philosoph hat einmal gesagt, es ist besser sich eine Arbeit ohne Geld zu leisten, als keine Arbeit zu haben», sagt Abaz Çengaj. Er hat sich während seines Studiums mit französischer Literatur beschäftigt. «Ich habe kein Geld, um meine Frau und meine drei Knaben zu unterhalten. Sie wohnen nur neun Kilometer von hier, aber ich kann derzeit wegen des vielen Schnees nicht zu ihnen. Die Strassen sind unpassierbar.» Seine Plastikschlüpfer sind zerrissen. Der Radiobesitzer wird auch nicht reich: Für einen Werbespot, der einen Monat lang und täglich drei Mal ausgestrahlt wird, erhält er 150 Euro. Aber im Süden des Kosovo, wo praktisch jeder arbeitslos ist, sind auch Werbespots nicht gefragt.  

«Money money» von Abba steht auf der Wunschliste, wieder ein suchender Blick in das umfangreiche deutsche Archiv. «Beschallungsverzeichnis» steht auf dem Koffer – wobei einige Titel tatsächlich nur noch mit Schall und nichts mehr mit Musik zu tun haben. Dann singen Roxette über Milch und Toast und Honig. Der Ohrwurm der Schweden ist auch im südlichsten Zipfel des Kosovo beliebt. «Ich verabschiede mich für heute mit dem Lied von Anastacia: I’m out of love». Nuhi schiebt nochmals die Regler hoch, Hauptmann Bordt zieht den Kopfhörer von den Ohren. Neben dem Heizstrahler duftet türkischer Kaffee. Die Wunschsendung ist zu Ende, das Musikprogramm aus der Computerkonserve auch bald: Um 20 Uhr fällt wieder einmal der Strom aus.










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Eine Nase für Sprengstoff

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Für den deutschen Schäferhund ist dies ein Spiel. Für seinen russischen Ausbildner tödlicher Ernst. Zusammen bilden sie ein Team, suchen sie Minen, die im Kosovokrieg 1999 verlegt worden sind. Zehn auf zehn Meter gross ist das Feld, welches der Hund absucht, markiert mit gelbroten Bändern. Die Nase gleitet über den Boden, bleibt hinter einem Busch, nichts. Piotr gibt Anweisungen, der Hund gehorcht aufs Wort, sucht links, geht zurück, riecht nochmals, nichts. Der Hund bleibt stehen und wartet auf weitere Anweisungen.  

Nur der Zündstift der Mine ist aus Stahl, gerade einmal zwei Gramm schwer und auch mit hochempfindlichen Detektoren nur schwer zu finden. Das Gehäuse der «PMA 3» ist aus Plastik und birgt 35 Gramm TNT in sich. Hunde riechen den Sprengstoff. Und sie können auch zeigen, wo er liegt, wenn sie dafür ausgebildet worden sind. «Die Ausbildung der Suchhunde durch unsere Spezialisten dauert zwei Jahre», erzählt Boris. Er ist bei einer zivilen russischen Minensuch-Firma angestellt und leitet internationale Missionen. «Ein ausgebildeter Hund kostet 60 000 Dollar.» Kein einziger Hund trat auf eine Mine. «Die Hunde suchen ein vermintes Gebiet zwei bis drei Mal schneller ab als Menschen», sagt Boris. Noch schneller arbeiten ferngesteuerte Maschinen. Grosse Metallknüppel an Ketten schlagen auf den Boden und bringen die Minen zur Explosion. Dabei wird jedoch auch der Boden zentimetertief umgepflügt und jegliche Vegetation zerrissen.  

Der Schäferhund schnuppert, schaut auf, schnuppert nochmals und setzt sich behutsam. Das Zeichen, dass er etwas gefunden hat. «Das können Granatsplitter sein», sagt Boris. «Manchmal findet man in einem kleinen Gebiet hunderte davon. Oder fand der Hund wirklich eine Mine?» Piotr steckt im bereits abgesuchten Weg um das abgesteckte Minenfeld eine Markierung in den Boden, läuft um das quadratische Feld, markiert rechtwinklig eine zweite Stelle. Im Schnittpunkt der unsichtbaren Linien, wo der Hund sitzt, liegt etwas. Der Hund darf wieder aufstehen und erhält eine Belohnung. Er wedelt mit dem Schwanz.  

«Bei schlechter Witterung können wir nicht mit den Hunden arbeiten», sagt Boris. Bei starkem Wind, Regen oder aufgeweichtem Boden finden die Hunde nichts. Zudem muss das Wetter Helikopterflüge zulassen. Wird jemand durch eine Mine verletzt, müssen die Blutungen in einem Spital schnell gestoppt werden können. Auch während der Wintermonate ruht die Arbeit. Die Minen können jahrelang ruhen und bleiben gefährlich. Der Kunststoff verwittert nicht, ein Gummi schützt vor Regenwasser. Ganze Landstriche sind nicht mehr nutzbar. Felder können von den Bauern nicht bestellt werden, in den Wäldern bleibt das Holz liegen, mit dem die Menschen ihre Häuser heizen möchten. Boris zeigt auf einen Knochen im Wald. «Das war vermutlich ein Reh.»  

Zwei Fundestellen sind im Feld markiert. Nun kommt Andrej mit seinem Schäferhund und sucht die selben 100 Quadratmeter ab. «Zwei Hunde müssen unabhänig voneinander die selben Stellen angeben, sonst darf kein Minensuchspezialist das Gelände betreten», erklärt Boris. Das ergibt eine hohe Warscheinlichkeit, dass alle Minen entdeckt worden sind. Wieder das selbe Spiel. Vor, zurück, nach links, nochmals hinter dem Busch. Der Hund schnüffelt, schaut, schnüffelt und setzt sich. «Ein Hund arbeitet immer nur mit demselben Führer», sagt Boris. Zwischen Tier und Mensch entsteht ein tiefes Vertrauensverhältnis, das bei dieser Arbeit besonders wichtig ist. Auch der zweite Hund hat an den selben beiden Stellen etwas gefunden. Mit einem Metalldetektor, einem Suchstab und einer kleinen Schaufel sucht nun ein Spezialist, was dort im Boden vergraben liegt. Wieder zwei Plastikminen. In einem sicheren Gebiet neben dem Minenfeld spielen die beiden Schäferhunde miteinander.










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Schlafstätten mit dem Charme eines Kaninchenstalles

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Das freut jedes Auge mit Sinn für geometrische Ordnung und gradlinige Disziplin: Die grünen Normcontainer stehen im Feldlager Prizren einheitlich aneinandergereiht und unterscheiden sich aussen einzig durch die aufgedruckte Kenn-Nummer und die unterschiedlich grossen Satellittenschüsseln. Auch die normiert eingerichteten Innenräume geben nicht viele Möglichkeiten zu Kreativität: Drei Betten stehen unverrückbar darin, zwei nebeneinander auf dem Boden sowie ein Hochbett. Drei Schränke, drei Ablagegestelle und ein Tisch sind fest an die hellbeige gestrichenen Wände geheftet. Nur die drei Stühle wurden nicht angeschraubt. Dafür ist alles mit derselben Holzimitaion gefertigt wie die Betten. Die zwei stufenlos verstellbaren Elektroöfen sind im Winter in Betrieb, eine Klimaanlage lärmt im Sommer. Weiter gehören eine Leiter, eine Korkwand und ein Fenster mit Rollladen zum Inventar. Individuell ist nur die Aussicht – und der lebendige Inhalt, der während der Nachtstunden spätestens ab 23 Uhr hier weilen muss.  
Die Bewohner versuchen ihre 16 Quadratmeter möglichst wohnlich zu gestalten. Da hängen Lichterketten an den Wänden, Poster mit nackten Frauen, Fotos aus dem Einsatz, Ansichtskarten von Bekannten, Flaggen von Ländern. Auf den dafür vorgesehenen Drehgestellen stehen verschieden grosse Fernseher, in den Bilderrahmen lachen unterschiedliche Gesichter. Auch der normgraue Plastikboden kann gut mit Türvorlegern oder gar Teppichen hübsch verziert werden. Einheitlich ist dafür wieder die Bettwäsche, unabhängig von der Körpergrösse der Bewohner.  

Damit all die schraubenzieher- und sägenstrotzenden Swisstools und Leathermans am Soldatengurt bleiben, klebt die «Nutzungsordnung für Wohncontainer» unübersehbar beim Eingang. Sie verbietet das Einschlagen von Nägeln, schreibt vor, dass die Einrichtungen nicht verschoben werden dürfen und macht auch unmissverständlich klar, dass an den elektrischen Installationen keine Änderungen vorgenommen werden sollen. Weiter regelt das Schreiben des Feldlagerkommandanten, in welchem Abstand Fahrzeuge vor dem Container vorbeifahren dürfen und ordnet an, dass der Untergrund alle 48 Stunden auf Setzungen zu prüfen ist. Solche wären unverzüglich der «FLgrBtrbKp» zu melden. Jeder weiss, dass sich hinter der Abkürzung die Feldlager-Betriebskompanie verbirgt, welche die Containerfüsse dann ganz bestimmt umgehend und fachgerecht nachregulieren würde.    

Somit hat alles seine Ordnung, ist alles an seinem Platz und klar geregelt – fast alles. Denn an die selbstverständlichste Selbstverständlichkeit wurde nicht gedacht. Und so hängt leider nirgends eine Hausordnung, deshalb johlt die Marinesicherungs-Kompanie nach ausgiebigem Biergenuss bis in die Morgenstunden und knallt die Türen ins Schloss, der griesgrämige Hauptmann verstinkt schon am Morgen den Flur mit seinen Zigaretten und die an die Container anschliessenden sanitären Anlagen sind in einem unhygienischen Zustand. Trotz normierter WC-Schüsseln haben hier offensichtlich viele Männer Schwierigkeiten, diese zu treffen. An der Tür ist entweder der Griff abgebrochen oder ein Duschschlauch abgerissen, der Seifenspender tropft in den Trog, der Seifenhalter in der Dusche fehlt, und einmal mehr ist das Papier ausgegangen, um die Hände zu trocknen. Wohl um dieses zu sparen, wäscht jeder zweite Soldat nach dem Urinieren seine Hände nicht. Überhaupt wird mit dem Wasser sparsam umgegangen: Die Pissoirs werden häufig nicht gespült und auch die braunen Spuren in den WC-Schüsseln bleiben kleben. Und dann fällt das Wasser für ganze vier Tage aus. Jetzt tropft nicht einmal mehr der Wasserhahn, der das monatelang tat. Aber hinter all den verschlossenen Türen der normierten Wohncontainer wird bestimmt so ordentlich gelebt wie Zuhause.










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Erzwungene Enthaltsamkeit

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«Wie gut dass niemand weiss, dass ich hier wichse und nicht scheiss.» Vulgäre Worte, hingekritzelt auf eine Türe im Toilettencontainer. Niedergeschrieben, was niemand zu sagen traut. Mann spricht nicht darüber, Mann macht nur obszöne Witze, Mann legt von Zeit zu Zeit selbst Hand an, um aufkommende Gelüste zu befriedigen. Zwischenmenschliche Sexualität kann im Feldlager Prizren nicht gelebt werden. Betreuungseinrichtungen zur Befriedigung körperlicher Sehnsüchte existieren offiziell nicht, nur Gerüchte machen die Runde: Von Putzfrauen, die in den Stuben ihren Lohn aufbesserten, von offiziellen Puffs in den Camps der Amerikaner und Franzosen. Wohl eher Wunschdenken und Fantasie als Realität.  

Kein Gerücht sind die vielen Bordelle in der Stadt Prizren. Die Etablissements reihen sich an der westlichen Einfallstrasse in die Stadt aneinander. In der moslemisch geprägten Region boomen Prostitution und Menschenhandel. Frauen werden aus Rumänien und Bulgarien in das Kosovo verschleppt und hier verkauft. Wo viele einsame Internationale arbeiten und leben, lässt sich die temporäre Liebe gut verkaufen. «Ficki ficki», werden auch Soldaten auf der Strasse von zwielichtigen Männern angesprochen, die in dunkellichtige Lokale locken wollen. Armeeangehörige kommen mit der organisierten Prostitution aber praktisch nicht in Berührung. Alleine darf das Camp niemand verlassen, zu zweit unterwegs ist die Hemmschwelle viel höher und ein vor einem solchen Lokal geparktes Fahrzeug würde zudem den fleissig patroullierenden Feldjägern sofort auffallen.    

Legal und harmlos sind die Blickkontakte: Im Lagershop liegen auf einem Gestell verschiedene seichte Sexzeitschriften, barbusige Frauen grinsen zwischen Schokoladenriegeln und Chips. Sehnsüchtige Blicke gehen über die Theken der Betreuungseinrichtungen. Dort arbeiten einheimische Frauen, manchmal mit dem Ziel, sich einen Ausländer zu angeln, um mit ihm nach dem Einsatz das Land zu verlassen. Das gelingt manchmal auch. Vorstufe dazu sind händchenhaltende Menschen, die spätnachts durch das Camp gehen. Auch innerhalb der Truppe bilden sich Paare. Für sie bestehen genügend Möglichkeiten, sich dorthin zurückzuziehen, wo sie nicht mehr mit Argusaugen beobachtet werden. Eifersüchtige Blicke «danach» sind ihnen jedoch sicher.  

Einige leben ihre Gelüste wohl im Ausland aus. Deutsche Armeeangehörige können, so wird gemunkelt, an sogenannten Betreuungsfahrten nach Griechenland teilnehmen. In Thessaloniki an der «Sunny Beach» erholen sich die Soldaten vom Einsatzalltag im abgeschiedenen Hotel und geniessen das Mittelmeer. «Recreation» nennt sich das Neudeutsch. Zurückkehrende schmunzeln auf bohrende Fragen verschmitzt und sprechen über Andere. Einer erzählte von einem jungen Kameraden, der sich zwei Frauen mietete und den Akt auf Video aufzeichnete – und als Beweis auch gleich noch seinen Kameraden zeigte. Der viertägige Spass soll 3500 Euro gekostet haben. Auch die Swisscoy unternahm, so wurde berichtet, organisierte Fahrten mit Militärfahrzeugen nach Bulgarien und Mazedonien, wo die Landschaft schön sein soll. Einige Soldaten sind sehr müde zurückgekommen. Ob sie zu wenig geschlafen haben?  

Die meisten Männer müssen monatelang ohne Körperkontakt zum anderen Geschlecht ausharren und kommen damit auch einigermassen gut zurecht. Sie sprechen manchmal von ihren Beziehungen zuhause, leiden unter der Trennung und beteuern, dass sie ihre Partnerschaft nicht aufs Spiel setzen wollen. Einige schwemmen das Bedürfnis mit Bier die Kehle hinunter. Andere decken die Kameraden, welche in den Urlaub fliegen, mit dummen Sprüchen ein: «Sag Deiner Frau, sie solle nochmals die Wände der Wohnung anschauen. Denn sie sieht während der nächsten Tage nur noch die Decke.»










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Deftige Toilettensprüche

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Wer den ganzen Tag sinnlos herumsteht, wird manchmal beim Sitzen kreativ. Auf den Toiletten hängen Zettel im A4-Format, auf denen sich so mancher Soldat im Laufe seines Einsatzes verewigt. Einige Zettel bleiben lange weiss, andere wären besser weiss geblieben. «Sprüchlein, Sprüchlein an der Wand, welches ist das beste im Einsatzland?» Unter der Aufforderung, den Schreibstift zu zücken, schreiben viele einfach die Zahl nieder, wie viele Tage sie noch im Einsatz weilen. Manchmal spiegeln Worte die Moral der Truppe wieder. Hier ein Auswahl dessen, was die Männer bewegt – inklusive ihrer Schreibfehler. 

Ja, was ist denn das beste? «Deutschland», so die kurz und bündige Antwort. Viele der Autoren hoffen, dass der Einsatz bald ein Ende hat. So wohl auch dieser: «Wo immer mich der Weg des Schicksals hinführen wird, ist es hoffentlich nicht das Kosovo wo ich lande. Ausser zu Urlaubszweck.» Nun ja, Kosovo als Ferienland? Natürlich kann das Land mit landschaftlich schönen Gebieten aufwarten. Kirchen, Moscheen und Klöster sind einen Besuch wert. Die Tourismusverantwortlichen werden aber in den nächsten Jahren kaum nennenswerte Zahlen vermelden.  

Geradezu poetische Höhenflüge versprühen diese Worte: «Wenn nachts die Regentropfen leise an dein Fenster klopfen, dann denk ganz fest an mich, denn es ist ein gutanacht Kuss für Dich.» Das kann natürlich nicht unkommentiert bleiben: «Ich bin hier und Du bist da! Ha, ha, ha.»  

Hauptsache, die Zeilen reimen. Das hat sich dieser Sprücheklopfer zu Herzen genommen. «Den besten Witz im Einsatzland? Schau hin den hällst Du in der Hand.» Diese Minderwertigkeitskomplexe. Aber mit dem Lob ist das halt so eine Sache. Ob das die Motivation jenes Schreibers war, seine Tagesleistung zu verewigen? «Ich habe heute hier 10 cm abgelegt.» Das kann der nächste nicht auf sich sitzen lassen, und doppelt um die Hälfte nach: «Ich war mit 15 cm dabei» – hoffentlich war er alleine.  

Oder hat der Soldat seinen einsamen Frieden nicht einmal mehr auf der Toilette? Folgender Spruch lässt dies vermuten: «Auf dem Klo wohnt ein Geist, der jedem der hier scheisst, von hinten in die Eier beisst, mich hat er noch nicht gebissen, ich hab ihm auf den Kopf geschissen.» Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Ein Witz zum runterspülen.    

Was dieser Mann sagen will, ist wohl nur Eingeweihten verständlich: «Als Gott die 76er erschuff, stand der Teufel im stillgestanden.» Klar ist: die 76er sind die Wachkompanie des Marinezuges, echte Männer. «Gott sprach zu den Steinen: Wollt ihr 76er werden. Doch die Steine antworteten mit nein, wir sind nicht hart genug.» Worauf dann ein offenbar aussenstehender Soldat folgendes feststellt: «Militärische Intelegenz ist ein Widerspruch in sich!!!»  

Weitere Müsterchen gefällig? «Drogen, Sex und Alkohol sind unserem grössten Feinde wohl, doch in der Bibel steht geschrieben, Du sollst Deine Feinde lieben!» –«Alkohol und Nikotin raft die halbe Menschheit hin, doch ohne Alkohol und Rauch stirbt die andere hälfte auch.» An dieser Aussage ist nichts falsch. Richtig geschrieben ist sie aber nicht. Das merkt auch ein Toiletten-sprücheklopfer und schreibt fehlerfrei: «Rechtschreibung ist wohl nicht Deine Stärke, wa!» Das gilt insbesondere auch für jenen Soldaten, der in der Grundschule während des Englischunterrichtes in der hintersten Bankreihe sass: «Everybody wants to fuck, from the morning to the darck. Dreem of the solders at MNB.» Zum Abschluss nochmals die harten Männer der Wachkompanie: «Wier fon Der Marine können gar nicht sschreiben». Hoffentlich waschen sie die Hände.










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Die Vergänglichkeit des Schnees

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Leise rieselt der Schnee. «Merry Christmas» steht schlecht leserlich auf einem Schild am Strassenrand geschrieben. Die Schneeflocken nehmen die Sicht, die Scheibenwischer sind vereist und kratzen auf dem beschlagenen Glas. Der Ventilator dreht auf höchster Stufe, doch die Heizung wärmt nur ungenügend. Ketten rasseln auf den vereisten Strassen, die Räumfahrzeuge fahren pausenlos, andere nicht mehr. Die profillosen Breitreifen der Fahrer mit tiefergelegtem Verstand sind auf dem Schnee nicht so cool. Die Räder drehen durch, rutschen weg, landen im Strassengraben. Die kosovarische Fahrweise fordert auch am Weihnachtsabend ihren Tribut. Keine schöne Bescherung an diesem besonderen Abend, der dem grössten Teil der Bevölkerung nichts bedeutet. Vereinzelt hängt im islamisch dominierten Gebiet Weihnachtsschmuck an den Häusern. Schnee bedeckt die Dornen des Stacheldrahtes vor dem Camp. Die Wache steht mit Sturmgewehr und bis oben zugeknüpfter Jacke am Eingangstor des Feldlagers. Der militärische Gruss ist temperaturbedingt etwas weniger zackig, die Worte kommen langsam über die Lippen: «Ein frohes Fest.»  

Oh Tannenbaum. Rote, grüne und gelbe Lichter flackern an den Ästen im Flur des Bürogebäudes. Der Gabentisch ist mit Bergen von Süssigkeiten befrachtet: Christstollen, Lebkuchen, Früchte, Schokolade, Kekse, Kaugummi und Mürbeteiggebäck haben die Mütter geschickt. Auch Vater Staat denkt an seine Dienstleistenden: In den mit Explosionswarnschildern verzierten Schachteln aus Deutschland sind Gasfeuerzeuge, Kalender, Taschenlampen oder Werkzeuge verpackt, stehen Schokoladenweihnachtsmänner. Tausende von Kilometern liegen zwischen Vätern, Müttern und Kindern, Handys verbinden sie. Das Campnetz ist überlastet. «Fröhliche Weihnachten.» Stille. «Ich liebe Dich auch.»  

Ihr Kinderlein kommet. Wolfgang Petri schlagersängert im Büro penetrant Weihnachtslieder, bis einige Nerven blank liegen. «Zuhause würde ich so was ja nie hören», kommt ein Entschuldigungsversuch. Dann legt einer die neuesten Technobeats in die Stereoanlage, was auch nicht nervenschonender ist. Aus dem Studio des Truppenradios klingt gedämpfte Musik. Dann übermittelt der Unteroffizier Weihnachtsgrüsse aus der Heimat.  

Oh du fröhliche. Ein gelbes Postpaket liegt auf dem Schreibtisch. Unter dem Seidenpapier liegt ein liebevoll gestalteter Kalender, aus dem Geschenkpapier kommt ein Buch, im Cellophantütchen lagern köstliche Süssigkeiten, auf dem Büttenpapier stehen Worte von Herzen. Trennungsschmerz und Sehnsucht, Dankbarkeit und Wärme machen sich breit. Momente der Stille finden in diesen Tagen ihren Raum. Freundschaften zeigen ihren Wert – einige werden wertlos. Wenn Grussworte in der Leere verschwinden, wenn von früheren Berufskameraden nichts zurückkommt. Menschen werden sehr schnell vergessen. Oberflächliche Welt – glücklicherweise nicht überall.  

Stille Nacht. Wie Kinderaugen glänzen die Augen der Männer im Schein des Feuers. «Von uns für euch», sagt ein Stabsfeldwebel und ist stolz auf seinen Weihnachtsbasar. Ein Gefreiter brutzelt auf dem Grill Würstchen, der General drückt jedem die Hand. Schneemänner stehen zusammen. Das zerbombte Kasernengebäude der jugoslawischen Armee wirkt im sanften Licht und unter dem weissen Mantel unwirklich friedlich. Kameraden schütteln sich die Hand, ein bunt zusammengewürfelter Haufen feiert gemeinsam. In einigen Wochen und Monaten werden sich die Wege wieder trennen. Die Erinnerungen an die wertvolle Zeit, an unvergessliche Momente, wird bleiben. Aus dem Plastikbecher dampft Glühwein. Schneeflocken fallen auf die Hand, bleiben einen Moment in den Härchen hängen und schmelzen in der Wärme dahin. In den Wassertröpfchen spiegelt sich das Feuer. Auf der Hand glänzt ein kleiner Sternenhimmel.










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Freudenfeuer mit der Kalaschnikow

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Der Feierabend beginnt ausnahmsweise bereits um 13 Uhr. Die letzten Geschäfte des Jahres werden noch erledigt, Pakete zur Post gebracht, die Stuben gesäubert. Die Wintertage sind kurz. Nach 16 Uhr taucht das Kosovo in die Dunkelheit ab. Vor den Scheinwerfern im Feldlager Prizren tanzen die Schneeflocken und unter den Militärschuhen knirscht das Eis. Wärmende Stimmung herrscht im zweiten Stock des Stabsgebäudes. Stabsfeldwebel Laschinsky hat einen Umtrunk organisiert und kümmert sich rührend um seine Männer. In einem Blechkanister schwimmen Früchte in der Bowle, auf dem Tisch liegen belegte Brote – nicht lange. Aus dem Nebenzimmer dringt schallendes Gelächter, im Fernseher läuft Kult: «Dinner for one». James stolpert über den Tigerkopf. Prost. Einige Soldaten werden bald über die Schneehaufen am Wegesrand fallen.  

Zeit für Gespräche unter Kameraden, Diskussionen um die Friedensmission im Kosovo und den Krieg in Afghanistan. «Ich bin gespannt, ob ich in einem Jahr dort bin», sagt ein Hauptmann Anfang 30. Er hat sich für eine Offizierslaufbahn entschieden und ihn würde die Aufgabe in diesem Gebiet sehr reizen. Ein Einsatz ermöglicht tiefe Einblicke in ein Land und dessen Bevölkerung. Die Kameraden halten im Ausland besonders gut zusammen und vermitteln mehr als das Gefühl, gute Freunde zu haben. Und eine Mission bringt viel Geld auf das eigene Konto: 95 Euro pro Tag zusätzlich zum normalen Gehalt – nicht steuerpflichtig. Ein für viele nicht zu vernachlässigender Aspekt. Die Gehälter der Bundeswehr sind nicht sehr hoch.  

Der Alkoholpegel steigt. Die Bowle ist wirklich gelungen und der Löffel sucht nach den Früchten im Glas. «In der Milleniumbar tanzen zwei Gogo-Girls», ruft ein Stabsgefreiter. Ganze Heerscharen pilgern bereits zum Zelt, Deutsche, Bulgaren, Türken, Österreicher, Schweizer. Eine kosovarische Band spielt gute alte Musik, die Kleider der beiden Frauen auf der Bühne sind nicht der Jahreszeit angepasst. Den Soldaten wird es dafür in ihren Uniformen ziemlich heiss. Die Dunkelhaarige fährt mit den Fingern um ihre Lippen und streckt die Zunge heraus, was durchaus nicht als Beleidigung aufgefasst wird. Die Soldaten wollen mehr. «Ausziehn, ausziehn», brüllen sie. Die Frau kommt der Aufforderung nur teilweise nach, sie zieht ihr schwarzes Top ein wenig zur Seite und fasst sich an den weissen BH. Pfiffe übertönen die ohrenbetäubende Musik. Dann ist die Showeinlage zu Ende. Zwei Hauptgefreite stürzen mit ihren leichtbekleideten Begleiterinnen in das Zelt. Sie ziehen ihre eigene Show ab und ihre Frauen aus, fassen ihnen an die Brüste und in den Schritt, ziehen BH und Slip zur Seite. Die Frauen lassen alles mit sich machen. Sie sind aus Plastik.  

Die Bierdosen stapeln sich auf den Tischen, Sekt fliesst in Plastikbecher. «Drei, zwei, eins, happy new year», schreit der Sänger in sein Mikrofon. «Ein frohes neues Jahr, Prost, alles Gute, viel Glück.» Hände schütteln und die Männer stehen vor den uniformierten Frauen Schlange. Diese wurden an einem Abend wohl noch nie so oft auf die Wangen geküsst.  

Aus der Stadt sind Schüsse zu hören. Zum Jahreswechsel schiessen einige Kosovaren mit ihren Kalaschnikows Salven in die Luft. Im KFOR-Camp zünden Soldaten drei Leuchtraketen, die Schneeflocken auf den Uniformen glänzen im gelben Licht. Die Gesichter lachen. Nur ein Mann rutscht schlecht in das neue Jahr. Die Treppe ist vereist. Zwei Männer umarmen sich und suchen gemeinsam den Weg in ihre Unterkunft. Das Handynetz ist völlig überlastet, die Gerätchen piepsen, einige Soldaten drücken sich die Mobiltelefone an die Ohren und stapfen durch den Schnee. Eiseskälte liegt über Prizern. «Ich freue mich sehr, Dich bald wieder zu sehen.» – «Ja, nächstes Jahr stossen wir gemeinsam an.»










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Das schönste Haus im Kosovo

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«Das ist eines der schönsten Häuser im ganzen Kosovo», sagt Oberstleutnant Grummich stolz. In den Händen hält er Fotos aus dem Sommer. Die Gartenanlage wirkt sehr gepflegt, Blumen schmücken die Umgebung des Gebäudes, die Wände sind ordentlich verputzt. 75 000 Euro kostete das Haus – und viele unentgeltliche Arbeitsstunden. Der hohe Militär leitet eine Cimic-Truppe der deutschen KFOR. Die englische Abkürzung lässt sich mit «militärisch-zivile Zusammenarbeit» übersetzen. Seine gut ausgerüstete Truppe baut hilfsbedürftigen Menschen ein Dach über dem Kopf, bringt mit schwerem Gerät Material, verteilt Hilfsgüter und erstellt manchmal auch ganze Schulhäuser. Oberstleutnant Grummich war bereits sechs Monate lang im Kosovo und setzte sich auch für das Projekt des Behindertenheimes in Suva Reka ein. Sein Projekt. In Deutschland lancierte er in seiner Heimatstadt Plauen im Nordosten Deutschlands eine Spendenaktion und suchte weitere Geldgeber. Nun ist er wieder für sechs Monate in das Kosovo zurückgekehrt – «natürlich auf meinen alten Posten. Das war meine Bedingung. Denn dies ist die bestes Arbeit hier». Jetzt steht er vor der Haustüre der Institution und wird von den Bewohnern freudig empfangen.  

Die Behinderten von Suva Reka hausten lange Zeit in einem schäbigen Lokal an der Hauptstrasse. «Vor dem Krieg war es sehr schwierig. Wir hatten kein Geld. Die Menschen erhielten nur einen symbolischen Betrag, der nicht zum Überleben reichte», sagt Leiter Rexhep Kuçi. Handicap International kümmerte sich um die Menschen und «Handikos» wurde ins Leben gerufen. Auch andere Hilfsorganisationen setzten sich für die Behinderten ein. «Im Kreis Suva Reka mit seinen 80 000 Einwohnern leben 600 behinderte Personen», sagt Rexhep Kuçi. Viele der Menschen leiden unter nie behandelten Geburtsfehlern. Auch Unfall- und Minenopfer werden im Haus betreut. «Wir organisieren Computer-, Deutsch- und Tanzkurse. Wir nähen, kochen und zeichnen», zählt der Leiter verschiedene Aktivitäten auf – und spricht im gleichen Atemzug von seinen Problemen: «Wir haben zu wenige Rollstühle und Katheter, wir brauchen Medikamente.»  

In Suva Reka sind neben dem Leiter eine Krankenschwester, ein Fahrer, eine Sozialarbeiterin und ein Psychologe tätig. «Save the childern» kommt für die Gehälter von drei Physiotherapeuten auf. In einem grossen Raum arbeitet Veton gerade mit Florjie. Sie hat nach einer Krankheit ein Bein verloren. Eine andere Frau mit Hüftproblemen müht sich auf dem Gehband ab, jeder Schritt schmerzt, doch ihr Gesicht ist von eisernem Wille gezeichnet. Sie lächelt nur kurz zur Begrüssung.  

Im Nebenzimmer lachen Kinder. Dardan greift einen Zeichenstift und fährt damit quer über sein Blatt. Dann schaut er wieder mit weit geöffneten Augen auf den Fernseher. Auf RTL II läuft irgend eine unsägliche Vormittagsserie. Nur Dardan freut sich daran und johlt. Er ist ein Kind mit Down Syndrom. Blerim sitzt gebückt auf seinem Stuhl und schaut verschämt auf den Tisch. Seine Beine kann er nicht bewegen. Seine Mutter, die ihn jeden Tag in das Heim trägt, wartet auf einer Bank hinter ihm. Plötzlich steht sie wortlos auf, geht zu ihrem Kind und hebt den Pullover hoch. Darunter kommt ein faustdickes Geschwür hervor. Hautwucherungen bedecken die ganze Wirbelsäule.    

Dardan steckt sich eine Schokoladenkugel in den Mund und singt. «Ich bin sehr gerne mit den Kindern zusammen. Das ist eine dankbare Aufgabe», sagt Melihate Gashi. Die ausgebildete Psycho-Sozialarbeiterin lobt die kleine Aferdita für ihre schöne Zeichnung. Beim Abschied winken die Kinder herzhaft. Und Dardan springt von seinem Stuhl und umklammert mit seinen Armen das tarnfarbene Hosenbein. «Tschüss tschüss», ruft er. Seine grossen Augen strahlen vor Glück.










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Reizfrauen und Muskelmänner

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Die Dame, schätzungsweise Mitte 20, streckt ihren wohlgeformten Hintern aufreizend entgegen. Der rote Tanga verschwindet zwischen den Pobacken und die braungebrannten üppigen Rundungen sind nur spärlich bedeckt. Der Mittdreissiger hinter ihr schnappt nach Luft, sein Kopf ist hochrot, Schweissperlen drängen aus allen Poren. Dann setzt er nach 45 Minuten zum Endspurt an, der Oberkörper wippt und ein leichtes Stöhnen kommt über seine Lippen. Sie ist auf ein Poster gedruckt, er trainiert – damit er hoffentlich einmal weniger üppige Rundungen hat als sie. Schöne Aussichten.  

Mann gibt sich im Feldlager Prizren mit wenig zufrieden. Der Ablenkung dienen den 3000 Soldaten viel Bier in einer der Betreuungseinrichtungen, ein Abend vor dem Fernseher oder eben das immer überfüllte Sportzelt. Zwei der drei Fahrräder sind wieder defekt. Warten. Auf dem Tischchen liegen monatealte Zeitschriften. Auf dem verbleibenden Ergotrainer müht sich ein neuer Rennfahrer ab. «Ich mache noch 30 Minuten», keucht er. Er müsste wohl um die Welt fahren, um seinen Bierbauch wegzutrainieren. An anderen Körpern ist jedoch kein Gramm Fett zu sehen. Restlos alle Muskeln sind gestählt, sogar jene, die man nur gebrauchen kann, um ausgefallene Trainingsmaschinen zu bedienen. Knapp geschnittene T-Shirts betonen die mit Adern durchsetzten Ausbuchtungen zusätzlich. An einigen Oberarmen prangen Tätowierungen: Stacheldraht, Löwenköpfe, Skorpione, Frauenkörper. Rücken kerzengerade und Arme kastenbreit stolziert ein Nachfolger von Rambo durch das Zelt. Die einzige anwesende Frau würdigt ihn keines Blickes. Im Camp leben nur einige Dutzend.  

Mega Power Mass 5000 wird an der Bar feilgeboten. Eineinhalb Kilogramm Eiweiss in der Dose für 19 Euro, 24 Ampullen Aminobolin flüssig kosten 25 Euro. Auf der Theke stehen Trinkflaschen und Gläser, das breite Angebot wird rege genutzt, literweise verschwinden die Flüssigkeiten in den Kehlen, dann wird weiter trainiert. Von 6 bis 13 Uhr, von 15 bis 22.30 Uhr, täglich. Ein Helfer schiebt ein weiteres Gewicht auf die Stange, Muskeln vibrieren, zwei Oberarme so dick wie normale Unterschenkel stemmen den Stahl in die Höhe. Auf dem Laufband joggt ein junger Soldat. Dieses Rennen hat er nicht gewonnen, die Turnschuhe traktieren das Gummiband immer langsamer. Der Mann versprüht schliesslich Desinfektionsmittel und putzt Griffe und Anzeige. Das Fahrrad ist nun frei. Die Richtige Sitzposition ist eingenommen, das Handtuch baumelt am Griff. Über die Elektronik lassen sich die verschiedenen Programme wählen: Fettabbau, Zufallsprogramm, Berge, Rennen. Die Aussicht bleibt immer die selbe. Frauenpo und Bildschirm.  

Auf Viva trällern irgendwelche Mädchen sogenannte Hits. Der Bass des Fernsehers vermag nicht so recht zu überzeugen. Dann wird wieder zurück zum Hauptprogramm geschaltet: Werbung. Für Kinofilme, für Autos, für Versicherungen, für Handys. Auf dem Display zwischen den Griffen wird die Leistung genau dargestellt. 960 Kilojoule in der Stunde, 234 Watt Momentanleistung, 31 Kilometer pro Stunde schnell. Rote Lämpchen leuchten und zählen die Sekunden. Kein Fahrtwind, die Muskeln werden wärmer. Die Pulsuhr gibt Auskunft, ob gerade der Körper einen Trainingseffekt erfährt oder ob Fett verbrannt wird. Die reichhaltige Küche des Lagers verleitet nicht eben zu Diätprogrammen.  

Eine unter Magersucht leidende Moderatorin macht am Bildschirm eine coole Ansage, die Texte des Rappers haben noch weniger Gehalt. Schweiss rinnt von der Stirn, das Handtuch ist vollgesogen, das T-Shirt klebt an der Haut, die Muskeln geben alles, das Fahrrad wackelt – im Takt mit den aufreizenden Hintern im Fernseher. Doch im charmelosen Wohncontainer wartet später die süsse Versuchung nur in Form einer Tafel Schokolade.










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«Ich würde die Strasse nicht verlassen»

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«It’s always in fucking Malisevo», flucht Tony Thompson, wirft den Telefonhörer auf die Gabel und geht zum Funkgerät. Er ordert ein Spezialistenteam in die von vielen Serben bewohnte Kleinstadt im Süden des Kosovo, buchstabiert den Fundort, nennt die genauen Koordinaten. Die Polizei hat gemeldet, sie habe eine Panzermine gefunden. Tony geht kurz in einen Nebenraum und holt aus einer Kiste einen Luftfilter und den Raddeckel eines Autos. «So sehen für viele Leute Panzerminen aus. Und deswegen ruft uns die Polizei oft umsonst.» Doch seine Teams haben in den vergangenen zweieinhalb Jahren schon viele echte Minen gefunden. Im Kosovo über 25'000. Ausserdem wurden 8000 Bomben und 14'000 nicht explodierte Sprengkörper entschärft. Über 30 Millionen Quadratmeter haben die Spezialisten dazu umgegraben.  

Der Brite und frühere Berufssoldat leitet das Mine Action Coordination Center der UNO in Prizren. Die Teams, denen kurz nach dem Krieg weit über 1000 Frauen und Männer angehörten, sind international. Tony koordiniert Gruppen aus Zimbabwe und Russland, einige der Minensucher kommen aus Europa. Auch die Millionen, die dafür benötigt werden: Die Europäische Union, 18 vor allem europäische Staaten und die UNO bezahlten in den zweieinhalb Jahren ihres Engagements 17,5 Millionen Euro. Einen Mann kostete seine Arbeit das Leben. 29 Minensucher wurden verletzt, verloren Zehen, Finger, ganze Beine, manchmal das Augenlicht.    

Dabei werden Minen nicht verlegt, um Menschen zu töten. Sie sollen Truppen binden und dadurch die Kampfkraft schwächen. Doch die Minen merken nicht, wenn der Krieg beendet ist. Sie bleiben im Boden und dort über Jahre eine tödliche Gefahr für die Zivilbevölkerung. «Die jugoslawische Armee hat uns 650 meist sehr genaue Karten zurückgelassen. Dort ist eingezeichnet, wo die Minen liegen.» Einige waren jedoch sehr schwer zu finden. Die Befreiungskämpfer der UCK fertigten keine Pläne an. Niemand weiss, wo welche Minen verwendet wurden. Auch Schmuggler legen heute noch Minen, um ihre Pfade zu sichern und unliebsame Konkurrenten und die Polizei fernzuhalten.  

«Wir haben alle im Kosovo bekannten Minenfelder geräumt», sagt Tony. «Das bedeutet allerdings nicht, dass hier keine Minen mehr sind», warnt er vor einer vermeintlichen Sicherheit. Auch in einem gesäuberten Minenfeld können noch Minen liegen. Zudem sind nicht alle der verminten Gebiete auch eruiert worden. «Immer wieder kommen Leute von Hilfsorganisationen zu uns ins Büro und fragen, in welcher Region sie gefahrlos wandern können. Sie gehen dabei immer ein Risiko ein. Wer wandern will, soll doch in die Schweiz reisen. Ich verlasse hier nicht einmal asphaltierte Strassen.» 500 Zivilisten wurden nach dem Krieg durch Minenunfälle verletzt, 100 tödlich.  

Einheimische Hilfskräfte werden die Arbeiten von den abziehenden internationalen Organisationen übernehmen. «Die Leute haben wenig bis keine Erfahrung. Wir haben sie so gut wie möglich ausgebildet. Nun müssen sie selber die Verantwortung übernehmen. Die Motivation muss sein, ihr eigenes Land wieder bewohnbar zu machen», sagt Tony. Die schlechte Bezahlung motiviert jedenfalls nicht. Die einheimischen Arbeiter erhalten zehn Mal weniger Geld für ihre anspruchsvolle Aufgabe wie viele der ausländischen Experten. Die 130 Euro pro Monat reichen nicht, um eine Familie zu ernähren.  

Für Tony hat die Arbeit im Kosovo zweieinhalb Jahre gedauert. «Das war in meinem Leben die längste Zeit an einem Ort», sagt der Brite. Sein Vater war Berufsmilitär, Tony hat die ganze Welt gesehen. Meist Orte, wo niemand seine Ferien verbringt. Tony packt seine Koffer, um in das nächste Minenfeld reisen. «Libanon oder Afghanistan», sagt er trocken. Er wir immer Arbeit haben.










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Wasser für Mitrovica

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Ein gepanzerter Geländewagen der Franzosen fährt vorneweg, ein österreichischer Radschützenpanzer braust heran, ein deutscher Truppentransporter prescht mit seinen Ketten durch den Schnee und dreht in einem ärmlichen Wohnquartier von Mitrovica das schwere Maschinengewehr. Zwischen den Häuserblocks steht ein Lastwagen der Schweizer Armee. Er führt wertvolle Fracht mit sich: 10 000 Liter Trinkwasser.  

«Bei den französischen Truppen wurde immer wieder angesprochen, dass einige Quartiere kein Wasser haben», sagt Jean-Louis Galeazzi, der den Wassertransport initiiert hat. Die Idee des schweizer Majors wurde unbürokratisch und in wenigen Tagen in die Tat umgesetzt. Claude Ropraz riegelt an den vereisten Griffen und wuchtet die Türe des Containers auf. Darin surrt ein Generator, damit bei einer Aussentemperatur von 10 Grad unter dem Gefrierpunkt das Wasser flüssig bleibt. Der Soldat hantiert am Chromstahltank, schliesst einen Schlauch an und baut die Zapfstelle auf. «Wir liefern hier 5000 Liter und im Norden der Stadt nochmals 5000 Liter», sagt Major Galeazzi. «Das haben wir via Radio angekündigt.» Doch kein Mensch kommt. Die Bewohner der Häuser hängen über ihre Balkone und fragen, was hier geschieht. Dann verschwinden die Gesichter wieder. Kinder kreischen und werfen sich Schneebälle um die Ohren. Die Soldaten warten und fragen sich nach dem Sinn ihres Hierseins. Nach zweieinhalb Stunden sind die Füsse nicht mehr zu spüren.  

Ohne einen Liter verteilt zu haben setzt sich der Tross wieder in Bewegung, über die Brücke der getrennten Stadt, in der die Menschen fast täglich demonstrieren, wo Gewalt zum Alltag gehört. «Ein unbewaffneter Mann wurde letzte Woche durch sieben Schüsse exekutiert», erzählt Major Galeazzi. Die Franzosen an der Brücke gehen in Achtungsstellung und lassen den Militärkonvoi passieren. Über enge Strassen kurvt der Lastwagen auf eine Anhöhe und wird dort bereits erwartet. Eine Frau lächelt. Sie trägt leere Plastikbehälter in der Hand.  

Kaum sind die Schläuche angeschraubt, drehen die Menschen an den Verschlüssen. Ein alter Mann steht mit fragenden Blicken vor dem Rohr und hebt ein Flasche zum Mund. «Ja, das ist Trinkwasser», sagt Major Galeazzi und nickt. Der Serbe versteht kein Wort und beginnt seine Flasche zu füllen. Wasser schiesst in Kunststoffkanister, Glasbehälter, Plastikeimer. Mit Schlitten und Schubkarren kommen immer mehr Männer, Frauen und Kinder angefahren. Um die beiden Zapfstellen bilden sich Menschentrauben – Albaner, Serben, Bosnier, Roma. In diesem kleinen Gebiet der Stadt leben die verschiedenen Ethnien mehr oder weniger friedlich zusammen. «Wir hier haben keine Problem», sagt Ferati Mensur, der drei Jahre in der Schweiz lebte, in einem Mix aus Deutsch und Englisch. «Französische KFOR nichts Trinkwasser bringen, you know. Ich müssen immer zwei Kilometer in Stadt unten holen. Doch ich gehbehindert», sagt der Zwanzigjährige. Geduldig füllen die Menschen ihre Flaschen ab und diskutieren miteinander. «Wir seit drei Wochen haben kein Wasser kein Strom. Mir in Wohnung fehlen Trinkwasser und Kochwasser. Ich Kleider habe seit drei Woche nicht mehr gewascht.» Auf dem Hügel steht ein hässliches Denkmal aus Beton, das an die ruhmreiche Zeit der Bergwerke der Region erinnert. An den Krieg erinnern die vielen zerstörten Wohnhäuser. Die Dächer fehlen, Schnee liegt in den Wohnzimmern.  

Major Galeazzi grinst. «Ich bin mit der Aktion sehr zufrieden. Und wenn alles verteilt ist, gehen wir einen heissen Kaffee trinken.» Das wärmt die Füsse auch nicht mehr auf. Nach der vierstündigen Fahrt in das 120 Kilometer entfernte Suva Reka wartet später zumindest eine heisse Dusche. Eine Frau hält drei Flaschen unter dem Arm und lacht unter ihrem Kopftuch hervor. «Danke.»










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Die Suche nach dem 1100 Kilometer entfernten Job

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«Bewerben – zeigen, was man wert ist.» Der Armeeseelsorger der Swisscoy im Kosovo wirbt am Anschlagbrett vor seinem Bürocontainer nicht nur für die Gottesdienste, sondern auch für eine Dienstleistung anderer Art: Er hilft beim Schreiben von Bewerbungsbriefen und Lebensläufen, fertigt Bewerbungsfotos an und erstellt zusammen mit den Interessenten Bewerbungsdossiers. Die Wunschtermine für diese Beratung können die Soldaten gleich eigenhändig in seinen Terminkalender eintragen. Was rege benutzt wird: «Während meines einjährigen Einsatzes habe ich bei 110 Dossiers mitgeholfen», sagt Manfred Stuber. Er ist in seinem «normalen Leben» reformierter Pfarrer in der Heiliggeistkirche in Bern. Jetzt sitzt er in einem bequemen Stoffstuhl in Suva Reka zwischen weissen Militärcontainern, seinem bevorzugten Ort für persönliche Gespräche. Er ist seit einem Jahr im Kosovo, sein Einsatz neigt sich dem Ende entgegen.

«Einige Leute haben seit der Berufsschule kein Bewerbungsdossier mehr verfasst. Viele der Swisscoy-Soldaten sind Handwerker, diese stellten sich bisher bei einem potenziellen Arbeitgeber persönlich vor und schrieben nie Bewerbungen», begründet er, weshalb so viele Leute kaum Erfahrung mit schriftlichen Dossiers haben und Unterstützung brauchen. «Ich will keine Standardtexte. Die Motivationsschreiben müssen individuell sein», betont Manfred Stuber. Seine Kompetenz hat er sich im Berufsleben erarbeitet: Als Präsident des Cevi Region Bern hat er zahlreiche Bewerbungsgespräche geführt und weiss, worauf die Stellensuchenden achten müssen. «Meist geht es nicht nur um die Gestaltung oder die Formulierungen. Die Gespräche um die Stellensuche haben durchaus auch eine seelsorgerische Note. Es geschieht oft, dass wir beim Thema Lebenslauf abschweifen und stundenlang über sehr persönliche Dinge reden.» Dann zieht er sich mit seinem Gesprächspartner oft auf den nordöstlichen Wachturm zurück, vom Militärcamp am weitesten entfernt und mit Weitblick über die Hügellandschaft des Südkosovos. Beim Armeeseelsorger sind vertrauliche Worte gut aufgehoben. Er untersteht der Schweigepflicht.

Etliche Lebensläufe sind nicht gerade verlaufen. Soldaten in Uniform werden bei ihm zu Menschen mit individuellen Problemen. Die Motivation, auf dem Balkan einen Einsatz zu leisten, ist unterschiedlich begründet: Berufsmilitärs sammeln internationale Erfahrungen, die bei der Karriereplanung gut anstehen. Manch ein freiwilliger Zeitsoldat will mit dem gut verdienten Geld Schulden tilgen. Viele wollen im Kosovo etwas Aussergewöhnliches erleben. Andere leisten sich eine Auszeit und sind froh um den vorgegebenen Tagesablauf weit weg von den Lebensfragen, die sie sich woanders stellen müssten. Die Zeitsoldaten kündigen Wohnung und Beruf, ohne zu wissen, was nachher auf sie wartet. Weit entfernt von Angehörigen und Freunden, leben sie in einer eigenen Welt. Einige Liebesbeziehungen überstehen die räumliche Trennung trotz Skype und Mail nicht. Manchmal reichen weniger als 160 Zeichen einer SMS, um ein ganzes Leben umzukrempeln. Solche persönlichen Schicksale berühren den Seelsorger. «Es gibt schon heftige Situationen. Das wird zu einer Gratwanderung, ich möchte helfen und muss mich abgrenzen. Wichtig ist, zu wissen, dass ich für das Schicksal anderer Leute nicht verantwortlich sein kann. Zudem habe ich selber ein stabiles Umfeld, und ich weiss, wo ich auftanken kann», sagt er ruhig, zieht an seiner Tabakpfeife und räkelt sich auf seinem Stuhl.

Einblicke in ganz andere Welten, diesseits und jenseits des Stacheldrahtes des Militärcamps, haben Manfred Stuber motiviert, sich für ein Jahr im Kosovo zu engagieren. «Viele der Soldaten möchten in ihrem Leben etwas verändern. Für mich ist spannend, zu sehen, wie diese Leute leben.» Das erleben im Militärcamp alle hautnah. Die Privatsphäre beschränkt sich auf einen zwei mal fünf Meter kleinen Wohncontainer, den man sich mit einem Kameraden teilt. Nur die ranghöheren Militärs wohnen alleine.

Manfred Stuber bringt das Gespräch wieder auf die Jobsuche zurück: «Meist schicke ich die Leute auf die Reise durch das Internet. Sie müssen selber herausfinden, welche Stelle sie sich wünschen. Ich bin kein Berufsberater.» Ein Mechaniker will sich beispielsweise nach seinem Einsatz zum Sozialpädagogen ausbilden lassen. Einige beginnen nach mehrjährigem Berufsleben ein Studium oder machen einen Sprachaufenthalt. Solche radikalen Wechsel gibt es aber selten. Zahlreiche Soldaten möchten auf die Polizeischule, eine erfolgreiche Bewerbung scheitere oft an mangelnden Deutschkenntnissen. So hat Manfred Stuber auch einen Deutschkurs angeboten, büffelte mit den Soldaten in ihrer Freizeit Grammatik, Wortarten und Kommaregeln. «Ich bin stolz, wenn daraufhin Leute die Prüfung der Polizeischule bestehen, die zuvor durchgefallen sind.» 60 Soldaten hatten sich zu den Lektionen angemeldet, auch wenn bedingt durch die unterschiedlichen Arbeitszeiten, aber auch Interessen viele mit der Zeit nicht mehr kamen. Den wöchentlichen Gottesdienst am Sonntagabend im Camp besuchen vier bis fünf Leute. «Die religiösen Tätigkeiten machen im Kosovo nur zehn Prozent meines Engagements aus.»

Stellensuchende sind im Kosovo gleich mit mehreren Handicaps konfrontiert: Die Zeitungen mit den Stellenanzeigen treffen erst mit einigen Tagen Verspätung im Militärcamp ein, die Computer mit Internetzugang sind gut belegt, und vor allem lässt es sich nicht immer einrichten, zu einem Vorstellungsgespräch in die Schweiz zu fliegen. Die Flugtage der vom Militär gebuchten Maschine sind fix: jeweils dienstags und freitags. Mehr als zwei Reisen in die Schweiz sind während des halben Jahres kaum möglich.

Bleibt die Jobsuche erfolglos, bietet sich für viele eine gute Alternative: Sie verlängern ihren Einsatz. Von den 212 Swisscoy-Soldaten des 24. Kontingents blieben 60 für ein weiteres halbes Jahr bis im Frühling 2012 im Kosovo. Die Vorteile liegen auf der Hand. Die Arbeit ist bekannt und vertraut, der Arbeitsalltag ist geregelt und vorbestimmt, viele Kameradschaften bleiben erhalten. Zudem und nicht zuletzt ist das Gehalt lukrativ und liegt inklusive der Einsatz- und Gefahrenzulage oft deutlich über dem Einkommen in der Schweiz. Und beim Swisscoy-Einsatz mit Kost und Logis inklusive sind die Lebenshaltungskosten tief – ausser man erliegt dem Angebot der vielen Militaria- und Elektronikshops. Der Nachteil eines langen Auslandaufenthaltes ist die schleichende Entfernung vom Arbeitsalltag in der Schweiz und dass der vermeintlich sichere Militärjob trotzdem irgendeinmal zu Ende ist. Soldaten, die mehr als zwei Einsätze am Stück leisten oder immer wieder in den Kosovo zurückkehren, werden als «Mission Junkies» bezeichnet. Nicht die Abhängigkeit vom Militärleben wird zum Problem, sondern die durch die lange Zeit im Ausland schwierige Wiedereingliederung in das soziale Umfeld und in einen «normalen» Arbeitsalltag.

Dagegen steuert der Pfarrer aus Bern. «Von 70 Stellensuchenden, mit denen ich vor einem halben Jahr Dossiers bearbeitet habe, fand nur ein Landschaftsgärtner keine Stelle», sagt Manfred Stuber stolz. «Ich habe aber auch Leute erlebt, die bereits eine Stelle in der Schweiz hätten antreten können, aber aus Bequemlichkeit ihren Einsatz verlängert haben. Ein Jahr lang kann man gut weg sein. Aber nach drei bis vier Jahren im Einsatz wird die Rückkehr zum Problem», ist Manfred Stuber überzeugt. Er kehrt bald wieder an seine ehemalige Wirkungsstätte zurück, mit der Überzeugung, in jede Richtung den richtigen Weg gegangen zu sein.









        















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Der Konflikt

Während der Balkankriege in den 1990er-Jahren in Bosnien, Kroatien und im Kosovo starben zehntausende Menschen. Die Opferzahlen im Kosovo sind nicht genau zu beziffern. Das Haager Kriegsverbrechertribunal geht von 3000 Toten aus. Erst beim Kosovokonflikt 1999 griff die NATO ein und drängte die serbbischen Truppen zurück. Seither ist eine internationale Schutztruppe im Kosovo, das sich inzwischen unabhängig erklärt hat. Erste Ansätze eines friedlichen Nebeneinanders der Ethnien sind erkennbar.
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Tote Helden säumen die Strassen

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Sokol Morina ist am 16. September 1966 geboren. Seit dem 1. April 1999 wird er in Djakovica vermisst. Die Opfer im Kosovo sind ungezählt. Menschen wurden verschleppt, getötet, verscharrt. Im Zentralkosovo zwischen Pristina und Klina wüteten die Kämpfe besonders heftig. Die Wunden sind noch heute nicht verheilt, weder bei den betroffenen Familien noch in der Landschaft. Hausruinen zeugen von erbitterten Kämpfen. Dort formierten sich die Widerstandskämpfer der UÇK und schossen auf die einmarschierten serbischen Militärs aus dem Hinterhalt. Mit ihren altertümlichen Maschinengewehren und den wenigen Raketenrohren kamen sie gegen die gut ausgerüstete Übermacht nicht an.  

Bajram Hoxha ist am 30. Juli 1955 geboren. Seit dem 27. April 1999 wird er in Meje vermisst. Über dem Friedhof von Landovica flattert der schwarze Doppeladler auf rotem Grund im Wind. Menschen besuchen den Ort an der Hauptstrasse zwischen Prizren und Djakovica regelmässig. Totenstille herrscht auf der Anhöhe. Unter dem Humus liegen dutzende Helden. Sie haben für ihr Kosovo gelebt und gekämpft und ihr Leben verloren. Ein junger Mann hebt stolz die Hand zum militärischen Gruss. Zurück bleibt sein Bild. Auch Hamit Thaqi wird von seiner Familie vermisst. Auf dem Foto trägt er stolz ein Maschinengewehr in der Hand. Auf der schwarzen Kopfbedeckung prangt das rote Emblem der UÇK. Kitschige Kunststoffblumen ranken um den vergoldeten Bilderrahmen. Der Mann ist am 11. März 1999 gefallen. Hamit wurde keine 29 Jahre alt.  

Ljubica Busatovic ist am 23. Januar 1972 geboren. Seit dem 10. November 1999 wird sie in Gujilane vermisst. Die Menschen kämpften und rächten mit unmenschlicher Brutalität. Massengräber konnten erst ausgehoben werden, nachdem Spezialisten die Leichen von den dazwischen liegenden Minen befreit hatten.  

Schauergeschichten werden weitergegeben. Von einer Motorsäge in einer serbischen Polizeistation wird berichtet, die blutverschmiert gefunden wurde. Nach einem NATO-Angriff auf Treibstofftanks westlich von Prizren trieben die Serben als Vergeltung in einem benachbarten Dorf die albanischen Männer in ein Gebäude und liessen dieses in Flammen aufgehen, wird berichtet. Vertriebene Serben verloren ihr Leben, als sie nach dem Krieg in ihre Häuser zurückkehren wollten. Der in einem Wasserrohr bei Podujevo unter der Strasse verlegte Sprengstoff wurde ferngezündet, als der Bus passierte.    

Naser Fazliv ist am 23. September 1977 geboren. Seit dem 26. März 1999 wird er in Pristina vermisst. Zwei Albaner wurden am 6. November 1998 auf offener Strasse zwischen Suva Reka und Orahovac erschossen. Die zwei Autos stehen seither als Mahnmal im Gras, das Blech ist rostrot, die Einschusslöcher sind gut zu sehen. Kunststoffblumen sind an der Tür und im Tankstutzen angebracht. Daneben errichtete die UÇK ein Monument. In den Steinplatten sind die Namen eingemeisselt. Drei Kränze liegen hinter dem blankpolierten Chromstahlgitter. Elez Kukleci ist an irgend einem Tag 1929 geboren. Seit dem 18. Juli 1999 wird er in Pristina vermisst. Die getöteten Menschen blieben liegen, wo sie gefallen sind. Ihre Gräber säumen die Strassen. Manchmal pompös aufgebaut, verziert und mit Lampen beleuchtet. Manchmal trägt eine schlichte Steinplatte ein Gesicht und einen einzelnen Namen. Von vielen Menschen weiss niemand, wo sie geblieben sind.    

Ali Kafexholli ist am 15. März 1941 geboren. Seit dem 22. April 1999 wird er in Suva Reka vermisst. Sein Name steht im Buch des Roten Kreuzes, welches neben dem Eingang im UN-Gebäude in Prizren ausliegt. Die meisten Vermissten sind Männer. Das Buch hat 196 Seiten. Auf jeder Seite stehen 35 Namen.










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Von allen guten Geistern verlassene Dörfer

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Um ein Haus zu sprengen, braucht man nicht unbedingt Sprengstoff. Im Dachstock wird eine Kerze angezündet, jemand schleppt die Gasflasche des Küchenherdes in den Keller und öffnet das Ventil. Das Haus füllt sich langsam mit Gas, bis dieses die Flamme der Kerze erreicht. Viele der Hausruinen im Kosovo haben deshalb keinen Dachstock mehr, die Seitenmauern stehen jedoch noch. Ein Haus ohne Dach und Fenster zerfällt sehr schnell, Regenwasser dringt in jede Ritze ein und macht das Heim unbewohnbar. Unzählige Male haben serbische Paramilitärs auf diese Weise Hab und Gut der Kosovo-Albaner zerstört. Auch Jahre nach dem Krieg erinnern viele Ruinen an das Geschehen. In abgelegenen Regionen und in den Bergen sind immer wieder Geisterdörfer zu sehen. Geborstener Beton, verkohltes Holz, geschwärzte Mauern, gebrochene Backsteine.  

Andere Häuser wurden durch Geschützfeuer der Panzer zerstört. Vor allem im Zentralkosovo haben heftige Kämpfe getobt. Dort formierte sich die UÇK, hinterliess der Krieg tiefe Narben. Einige Mauern weisen grosse Einschusslöcher auf, Maschinengewehrsalven sind dort im Verputz verewigt. Nach dem Ende des Krieges verewigten sich Freiheitskämpfer mit Spraydosen: UÇK ist überall zu lesen. Zwischen den Mauern herrscht gespenstische Ruhe. Leben ist nicht mehr dorthin zurückgekehrt.  

Nach dem Krieg haben einige Kosovo-Albaner zurückgefeuert. Häuser flüchtender Serben wurden geplündert und gingen in Flammen auf. Die im Mai 1999 einmarschierte internationale Schutztruppe konnte die Rachefeldzüge zu Beginn nicht stoppen. Im Serbenviertel von Prizren lebten einst 12 000 Menschen. Heute sind es einige Dutzend. Die verlassenen Häuser wurden niedergebrannt, obwohl der Krieg hier im Süden nicht wütete. Die meisten Bewohner der Stadt sind sich einig: ein friedliches Zusammenleben ist nicht mehr möglich. Die Politiker arbeiten an einem eigenen Staat, die Bewohner des Kosovo an ihren Häusern. 12 000 werden und wurden wieder aufgebaut, oft neben den Ruinen der früheren Heime. Die europäische Agentur für Wiederaufbau bezahlt das Baumaterial, 10 000 Euro für ein durchschnittliches Haus, über eine Milliarde für das Kosovo. Doch hunderte Häuser stehen leer, die Fenster sind nicht eingesetzt, die Backsteine nicht verputzt. Viele Menschen sind nach ihrer Flucht noch nicht zurückgekehrt. Irgend ein Verwandter liess das Haus mit dem angelieferten Material auf jeden Fall schon mal bauen.  

Im Kosovo hat ein enormer Bauboom eingesetzt. Oft willkürlich wird gezimmert, von der Bretterbude bis zur Villa. Bauvorschriften existieren in irgendwelchen Schubladen, werden aber nicht eingehalten. Nach dem Motto: solange die Verwaltung weder richtig funktioniert noch einschreiten kann, werden Tatsachen aus Beton geschaffen. Entlang der Landstrassen entstehen aufgrund der verkehrsgünstigen Lage ganze Siedlungen mit Einkaufsläden im Erdgeschoss. Das Rohmaterial stammt aus dem Kosovo. An den Strassenrändern sind immer wieder Ziegeleien zu sehen. Die Arbeiter stellen graue Backsteine an- und übereinander und lassen sie trocknen. In Brennereien, wie sie schon vor Jahrhunderten funktionierten, werden die Steine gebrannt. Auch diverse Kieswerke laufen auf Hochbetrieb, Mühlen zerkleinern das Gestein zu Schotter und Sand. Kipper fahren pausenlos. Das Gesicht des Kosovo verändert sich sehr schnell, die internationalen Gelder ermöglichen einen raschen Wiederaufbau. Die Grundlage für den Neuanfang ist geschaffen, die Wirtschaft zieht wieder an und die wenigen kosovarischen Unternehmer verdienen damit auch gutes Geld. Anders sehen das viele junge Menschen, die in ihrem neuen Zuhause nicht an eine Zukunft glauben. Auf ihre Hoffnungen und Ziele angesprochen, geben sie oft zur Antwort: «Ich will wieder in die Schweiz.»










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Ein machtloses Parlament

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Die eine Hand umklammert eine Parteifahne, die andere hält er zur Faust geballt in die Höhe. Das Gesicht ist streng, die Worte kommen laut über seine Lippen. Der Junge ist keine zehn Jahre alt. Mit ihm brüllen seine Schulkameraden, seine Parteigenossen. Eine der vielen Wahlveranstaltungen, wie sie vor den Wahlen im Kosovo zuhauf stattfinden. Hunderte von Menschen strömen aus dem Stadium von Prizren, die PDK hatte hier zur Kundgebung gerufen. Autofahrer veranstalten ein Hupkonzert, Motoren heulen auf, Gummi schleift auf dem Kopfsteinpflaster, Männer lehnen sich weit aus den offenen Fenstern, lassen die weissen und gelben Fahnen und den albanischen Doppeladler im Wind flattern. Die Bässe der Hitparadenmusik hallen von den Mauern zurück. Eine Stimmung wie nach einer gewonnenen Fussballmeisterschaft. Doch die Wahlen finden erst in drei Tagen statt. Erst dann werden Gewinner und Verlierer ermittelt.  

Die Menschen sind aufgerufen, über die Zukunft ihres Landes zu bestimmen. Im Kosovo wird erstmals nach dem Krieg 2001 ein eigenes Parlament gewählt. 19 verschiedene Parteien stellen sich zur Wahl, alle haben sich dasselbe Ziel auf ihre Fahne geschrieben: Die Unabhängigkeit des Kosovo. Einige möchten das mit demokratischen Mitteln erreichen. Andere geben sich kämpferischer und wollen notfalls mit Waffengewalt ein Grossalbanien errichten, welches das Kosovo, Albanien und Teile von Serbien, Mazedonien, Montenegro und Griechenland einschliesst. Wahlsprüche sind auf die Mauern zerstörter Häuser gesprayt, Plakate hängen an vielen Wänden.  

Die Wahlveranstaltungen verlaufen weitgehend ruhig und ohne Gewalt. Die Parlamentswahlen auch. 1,25 Millionen Menschen sind wahlberechtigt. Wer sich vorher auf die Wählerlisten gesetzt hatte, kann nun im zugewiesenen Wahllokal seine Stimme abgeben. 498 Urnen stehen im Kosovo bereit, 81 in Serbien und 12 in Montenegro. Eine davon ist in Suva Reka in einem Schulhaus des Dorfes installiert worden. «Bis jetzt haben 1814 Personen gewählt, 2950 haben sich hier registrieren lassen.» Remzi Bytyqi, der Direktor der Schule, kommt mit den neusten Zahlen angestapft. «Seit der Mittagszeit haben wir hier keine Warteschlangen mehr, wir hatten keinerlei Probleme», sagt Fay Wooley, OSZE-Helferin aus Australien. Kleine Scharmützel gibt es in einigen Orten einzig wegen der albanischen Flagge. Eigentlich hatte die OSZE diese in Wahllokalen verboten. Nach einer Demonstration in einem Dorf kommt plötzlich die Order aus dem Hauptquartier in Pristina, Fahnen nun doch zuzulassen. Verwirrung und Kopfschütteln über die Inkonsequenz der Organisatoren. Im Kosovo herrscht den ganzen Tag über Ruhe, die Nacht legt sich über das Land. Die Anspannung bei der OSZE und den überwachenden Truppen der KFOR legt sich.  

Im Nebenzimmer des Schulhauses heizt ein kleiner Holzofen. An der Wand hängt ein Jahreskalender mit den Portraits von zwölf früheren Kämpfern der UÇK. Deren Nachfolgepartei PDK hat den demokratischen Kampf verloren. «Ich glaube, dass Rugova hier die Wahlen gewinnt. Suva Reka ist eine LDK-Hochburg, 3000 Menschen nahmen an der Wahlveranstaltung von letzter Woche teil», erzählt Remzi Bytyqi zufrieden.  

Die gemässigte Partei gewinnt mit 46 Prozent der Stimmen die ersten Parlamentswahlen im Kosovo, die PDK erhält 26 Prozent, die Arbeiterpartei AAK muss sich mit 8 Prozent zufrieden geben. Die Wahlbeteiligung ist mit 65 Prozent eher als gering einzustufen. Das hängt damit zusammen, dass die UNO gegen Entscheide des Parlaments ein Vetorecht besitzt und damit das Gremium und der Präsident nicht viel Macht erhalten. Das Kosovo bleibt rechtlich gesehen auch nach den Parlamentswahlen 2001 eine Republik von Serbien unter Verwaltung der UNO.

Am 17. Februar 2008 erklärte Kosovo seine Unabhängigkeit von Serbien. Mehr als die Hälfte der UNO-Mitgliedsstaaten hat die Unabhängigkeit inzwischen anerkannt. 










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Das Tal der sieben Geisterdörfer

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Die Aussicht ist überwältigend. Weit über 2000 Meter hohe Berge bilden die Grenze zu Mazedonien, die Flanken leuchten in allen Herbstfarben, auf den Gipfeln liegt der erste Schnee. Vom 1570 Meter hohen Pass sind zwei Täler gut einsehbar, die Dörfer sind nur als Farbkleckse auszumachen, aufgereiht wie an einer Perlenschnur. Die Strasse windet sich innert weniger Kilometer um 1000 Meter in die Höhe. Eines der schönsten Täler im Kosovo.  

Der Ausblick ist auch von strategischer Bedeutung: Eine Panzerartilleriebatterie hat auf der Anhöhe Stellung bezogen. Alle passierenden Fahrzeuge werden beim Checkpoint Schneeleopard kontrolliert. Viele Autos, die von Prizren heraufkommen, machen jedoch vor dem Stacheldraht halt. Der Pass ist ein beliebtes Ausflugsziel der Bevölkerung. Zelte sind aufgeschlagen, Menschen sitzen in den Restaurants oder auf Decken auf der Wiese, Familien picknicken unter der warmen Sonne, Müll liegt überall verstreut. «Wo eine Coladose liegt, ist es für die Einheimischen kein Problem, auch einen ausgedienten LKW danebenzustellen», witzelt ein Soldat.    

Im Tal denken die Menschen an den kommenden Winter. In einem Weiler sammeln Bauern Brennholz, Kreissägen kreischen an den Strassenrändern, Traktoren ziehen halbe Wälder hinterher und verschwinden in den engen Gassen. Andere Dörfer sind überhaupt nicht bewohnt. «Sieben von vierzehn Ortschaften sind heute Geisterdörfer», sagt Hauptmann Schaus. «Die Häuser der Serben haben nach dem Krieg jedoch nicht gebrannt. Diese Zerstörungen ethnischer Natur gibt es in diesem Tal überhaupt nicht.» Nur die Balken eines Hauses in Sredska sind verkohlt, die Fenster geborsten, Stacheldraht liegt vor den verschmierten Wänden. «Hier war die berüchtigte serbische Sonderpolizei einquartiert. Paramilitärische Einheiten haben von hier aus grosses Unheil angerichtet», weiss der Hauptmann. In diesem Dorf sind deshalb auch keine Rücksiedlungen geplant. Von einst 150 Serben wohnen heute nur noch fünf in Bogoševac. Neun Serben sind in den letzten Monaten in ihre Häuser in die Nachbardörfer zurückgekehrt.  

Die Ortschaft Drajcici ist multiethnisch geblieben: 53 Prozent der Bevölkerung sind Bosniaken, 28 Prozent Albaner und 19 Prozent Serben. Hauptmann Schaus spricht von einer recht guten Nachbarschaft. Die Provokationen bleiben harmlos. Manchmal fliegt ein Fussball in den Friedhof der anderen Ethnie. Kriegerische Handlungen haben im Tal aber nie stattgefunden. Sredska, der einstige Hauptort des Tales, bleibt trotzdem ein Geisterdorf. Kurz nach Rücksiedlungsverhandlungen wurde ein Haus in der Nähe des militärischen Bewachungspostens gesprengt. «Das müssen fünf Kilogramm gewesen sein», meint der Hauptmann. Eine Seite des Hauses ist in sich zusammengestürzt.   

«Gut, dass hier in diesem Tal keine abgeschotteten Serbenviertel bestehen und die Menschen immer friedlich zusammenlebten, das macht unsere Arbeit einfacher. Die UN-Resolution, welche Bewegungsfreiheit für alle Teile der Bevölkerung verlangt, ist voll erfüllt», erzählt Hauptmann Schaus. Ein Auftrag seiner Truppe lautet zudem, das Weltkulturgut zu schützen. Am Eingang der Schlucht, unweit der ersten Häuser von Prizren, stehen die Überreste eines einst bedeutenden Klosters. Davor liegt rollenweise Stacheldraht, steht ein gepanzertes Fahrzeug, ein Maschinengewehrlauf schaut zwischen Sandsäcken hervor. Die Grösse des im 14. Jahrhunderts gegründeten Klosters lässt sich nur erahnen. In einem kleinen Neubau leben acht Popen, in einer Werkstatt entstehen kunstvolle Holzschnitzereien, eine Glocke hängt an einem rostigen Eisengestell. «Das Kloster wurde von türkischen Herrschern vor rund 400 Jahren zerstört», sagt der Hauptmann. Die Moschee im Zentrum von Prizren ist aus den selben Quadersteinen gebaut.










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Strom aus dem Fegefeuer

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Zwei Mal wurde Shefqet Avidu aus der selben Arbeitsstelle entlassen: 1989 von den Serben, als sie im Kosovo alle Albaner von verantwortungsvollen Industrieposten entfernten. Und 2001 von einem Unmik-Beamten, der in ihm einen Schuldigen für die jüngsten Pannen im Kraftwerk Kosova B fand. «Ich bin müde durch die vielen Probleme hier. Ich hatte meine Kündigung eigentlich schon vor einem Jahr eingereicht, aber ich wurde damals noch gebraucht», sagt der Professor. Trotzdem ist dem bescheidenen Mann die Enttäuschung über seinen jetzigen Abgang anzumerken. Seit 1979 hat er in Kosova B gearbeitet, im Kraftwerk, das zwei Drittel des Strombedarfs des Kosovo deckt. Vor zwei Wochen hat er seine Kündigung in gegenseitigem Einverständnis eingereicht. Zwei Computer surren auf seinem Bürotisch, sein Telefon könnte gerade so gut als Exponat in einem Museum stehen, die Ledersofas sind abgewetzt, die Luft im Raum ist bitterkalt, obwohl Dampf aus dem nahen Kühlturm steigt. Die Stäbe des Elektroofens leuchten orangefarben.  

Elektrizität wird im Kosovo, wenn nicht mit Benzingeneratoren, dann aus Braunkohle produziert. 1961 ging der erste Block von Kosova A ans Netz. Die Anlagen deutscher und amerikanischer Bauart produzieren maximal bescheidene 55 Megawatt. Bis 1975 kamen kontinuierlich vier weitere Blocks dazu. Die jüngsten Anlagen aus sowjetischer Produktion liefern immerhin je 140 Megawatt. Zu wenig für den ständig steigenden Bedarf an Elektrizität: Nach sieben Jahren Bauzeit lieferte 1983 der erste Block von Kosova B Strom. So viel wie alle fünf bisherigen Anlagen zusammen. Gut ein Jahr später konnte der zweite Block eingeschaltet werden. 678 Megawatt können sie zusammen liefern, annähernd so viel wie ein mittleres Atomkraftwerk. «Für eine Kilowattstunde benötigen wir 1,6 Kilogramm Kohle.» Oder anders ausgedrückt: Bei Volllastbetrieb verschwinden pro Tag 26 000 Tonnen Braunkohle im Ofen.

Lange Jahre war Shefqet Avidu technischer Direktor der komplexen Anlage. «Wir haben hier grosse technische Probleme, im letzten Jahr konnten wir nur einen Drittel der möglichen Kapazität produzieren», sagt er. Die Europäische Agentur für Wiederaufbau musste dafür um so mehr Geld aufbringen, damit der Betrieb weiterläuft: 114 Millionen Euro in den Jahren 2000/2001.

Seinen früheren Betrieb zeigt Shefqet Avidu trotzdem voller Stolz. Die Dampfturbine von MAN dreht auf Hochtouren und lässt den Boden erzittern, Dampf drückt aus den Ventilen, die Aggregate vibrieren. Die Maschinenhalle ist riesig, kilometerlang sind die Rohre, verdreht, verschachtelt. Shefqet Avidu kennt jeden Winkel, steigt über verschmutzte Treppen hinunter zum Herz der Anlage, dem Ofen. Der Maschineningenieur ist Feuer und Flamme, als er die schwere Türe des Sichtfensters öffnet. «Die Braunkohle wird zuvor in Mühlen fein gemahlen», schreit er. Die Kohle prasselt auf das Förderband aus Stahl und veranstaltet ein Feuerwerk. Im 90 Meter hohen Ofen wird das Wasser zu Dampf. «Wir brauchen in den beiden Blocks pro Stunde 1,4 Millionen Liter Wasser. Dieses wird unter Druck auf 542 Grad erhitzt. Der Dampf treibt die Turbinenschaufeln mit 176 bar an» – in einem Autoreifen sind gerade einmal zwei bar Druck.    

Grosser Druck lastet auch auf den Männern. «Die 730 Arbeiter, die durchschnittlich 150 Euro im Monat verdienen, müssen hart anpacken, damit die Anlagen bei der jährlichen Revision nur kurz ausfallen», sagt Sefqet Avidu. Über ihm sprühen Funken aus dem Ofen. «Beim Start eines der beiden Kraftwerkblöcke wurde ein falsches Ventil geöffnet. Die Ölversorgung für die mit 3000 Umdrehungen pro Minute drehende Dampfturbine war nicht mehr gewährleistet und die Lagerung war nach wenigen Minuten zerstört.» Die Reparatur dauerte Monate. Ein falscher Handgriff machte unzählige neue notwendig.










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Ultraviolettes Licht gegen Wahlbetrug

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«Als wir uns getrennt haben, wurde niemand erschossen», sagt Ladislav. «Heute pflegen wir mit den Slowaken freundschaftliche Beziehungen.» Der pensionierte tschechische Offizier aus Prag reiste in das Kosovo, um für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Wahlen zu beobachten. Er legt seine Stirn in tiefe Falten. «Warum können das die Serben nicht, warum können sie keine friedlichen Beziehungen mit ihren Nachbarn pflegen», fragt er sich und politisiert – nach einer Woche im Viersternehotel im griechischen Thessaloniki und nur fünf Tagen im Kosovo – wie ein profunder Kenner des Balkans: «Ich bin im serbischen Teil von Orahovac untergebracht. Ich habe gesehen, wie die Serben leben. Sie haben hier keine Chance. Ich sehe keine Zukunft für dieses Land.»  

Über die Zukunft des Kosovo sollen die Menschen heute mit ihrer Stimme entscheiden. Ladislav leitet ein Wahlbüro im serbischen Dorf Velica Hoca im Süden des Kosovo. «Die Wahlbeteiligung ist recht hoch. 446 Einwohner haben sich registrieren lassen.» In Velica Hoca leben heute rund 700 Menschen, über 1500 zählte der Ort vor dem Krieg. Arbeitsplätze bietet das Dorf keine, der Boden gibt nur wenig her, Stacheldraht liegt bei der einzigen Einfallstrasse. Am Checkpoint stehen rund um die Uhr deutsche Soldaten, leuchten Scheinwerfer. Velica Hoca mutet an wie ein Gefängnis ohne Mauern. Wer die unsichtbaren Grenzen ohne Schutz überschreitet, wer der falschen Ethnie angehört, muss um sein Leben fürchten.  

«Ich sah eine hochschwangere Frau, die dringend in ein Krankenhaus musste. Der Krankenwagen kam mit einer Eskorte von gepanzerten Fahrzeugen. Das nächste Krankenhaus ist in Mitrovica, 120 Kilometer weit entfernt. Von einem albanischen Arzt würde die Serbin nicht behandelt», erzählt Ladislav. «Ich hatte Tränen in den Augen, als ich das sah. Viele Kinder kommen in Autos zur Welt.»  

Eine alte Frau betritt das Wahllokal, legt ihre Identitätskarte auf den Tisch, unterschreibt auf den Wählerlisten bei ihrem Bild, setzt sich geduldig auf einen Stuhl. Der Wahlhelfer der OSZE sprüht ihr eine Flüssigkeit auf den Finger, die unter Ultraviolettlicht leuchtet. So soll verhindert werden, dass jemand zwei Mal wählen kommt. Die Frau lässt die Prozedur emotionslos über sich ergehen. Ein kräftiger Mann steht an der Eingangstür und kontrolliert die Finger der Neuankömmlinge mit seiner Lampe. Die Frau greift nach der in kyrillischer Sprache gehaltenen Kandidatenlisten, schlurft hinter eine Wand, gibt dort ihre Stimme ab und steckt den Zettel in die Urne. «Die Wahlbeteiligung ist recht hoch. Vier Stunden vor Schliessung unseres Wahllokals haben bereits über 60 Prozent abgestimmt», sagt Ladislav. Die Regierung in Belgrad hat erst vor wenigen Wochen ihren Leuten empfohlen, die Stimmen abzugeben. Die Serben sind in einer Zwickmühle: nehmen sie an den kosovoweiten Parlamentswahlen teil, fördern sie indirekt den Abspaltungsprozess des Kosovo von Serbien. Boykottieren sie die Wahlen, müssen sie sich vorwerfen lassen, gegen die Demokratie zu sein.    

In Velica Hoca kommen meist ältere Menschen zum Abstimmen. «Junge Menschen verlassen das Land, weil sie hier eine Minorität sind. Das habe ich in verschiedenen Gesprächen immer wieder gehört», sagt Ladislav. Fünf Kinder spielen vor dem Wahllokal Fussball. In der nahen Bar schauen Jugendliche auf einen Fernseher. Das Bild ist nicht farbig und flimmert. Panzer fahren durch die Wüste, Soldaten mit Raketenrohren auf dem Rücken marschieren durch die Berge, Krieg in Afghanistan. Im Kosovo versuchen die Menschen die Kriegsgreuel zu verarbeiten. Pater Milenko sitzt in einer Ecke und geniesst einen türkischen Kaffee. Er will nicht politisieren. Er zupft an seinem Bart und lächelt. Er hat keine andere Wahl.










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Weihnachten im Gefängnis

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Der Atem vor den Nasen wird zu Nebel. Eisige Kälte erfüllt die Kirche, nur die Augen der Menschen strahlen Wärme aus. Sie stehen Mantel an Jacke, Pullover an Halstuch. Ein Junge drängt sich zwischen den Hosenbeinen nach vorne und geht zielstrebig zur goldverzierten Ikone in der Mitte der St.Stephanskirche. Er stellt sich auf die Zehen, umklammert den Holzrahmen und küsst das Gesicht des Heiligen. Daneben liegen zerknitterte serbische Dinarnoten. Und wieder quitscht das Eisenscharnier der schweren Holztüre, Licht der tiefstehenden Wintersonne fällt für einige Sekunden auf die Fresken und erweckt die jahrhundertealten Gesichter für eine kleine Ewigkeit. An der Decke hängt ein Kronleuchter, drei Glühbirnen flackern wie Kerzen. Zwei echte Flammen züngeln aus silbernem Geschirr an der Ikonenwand. 7. Januar, 8 Uhr am Morgen, in der orthodoxen Kirche in der serbischen Enklave wird die Geburt Jesu gefeiert.  

Pater Milenko steht im Altarraum und spricht die Liturgie, die Menschen stimmen in einen kurzen Gesang ein, immer wieder, andächtig, minutenlang. Die reichverzierten Wände entführen in die Vergangenheit. Vor über 400 Jahren hat ein unbekannter Maler die Farben in den Verputz gepinselt. Umgeben von biblischen Szenen aus dem Morgenland tänzeln die Menschen von einem Bein auf das andere. Die Zehen sind eiskalt. Pater Milenko tritt aus dem Raum hervor, dreht sich langsam und schwingt dabei die Glocken zu den Menschen, Weihrauch erfüllt die Kirche. Der Glaube an Gott ist wichtig. Den Glauben an eine bessere Zukunft in ihrem verlorenen Land haben jedoch viele Bewohner von Velica Hoca aufgegeben. Ihr von Stacheldraht umzäuntes Dorf können sie nur verlassen, wenn schützende Hände an den Gewehren liegen. Auf einer Anhöhe wacht ein Schützenpanzer der KFOR.  

Pater Milenko segnet die Orthodoxen Kirchen in Metochia, Serbien, Bosnien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Letland, Estland, Litauen, Ukraine, Russland. Die Glöckchen am Holzbalken bimmeln und Kinder stimmen einen Gesang an. In die Kirchgänger kommt nach 90 Minuten wieder Bewegung und ein Mann trägt eine Schachtel voller Nüsse in den Raum. Der Pope hält in der einen Hand das Kreuz und in der anderen das gebrochene Brot. Frauen und Männer stehen aufrecht vor ihm, küssen das Kreuz und nehmen das Brot schweigend entgegen. Ein Kind lacht. Dann treten die Menschen vor die Türe und kneifen die Augen zu. Der Schnee blendet.  

Pater Milenko lädt in sein Haus gleich neben der Kirche. Der ungeheizte Wohn- und Küchenraum ist für einmal noch enger als gewöhnlich. Dutzende Pakete stapeln sich an einer Wand, in buntem Geschenkpapier eingepackt, auf den Etiketten steht statt einem Namen nur ein Alter und ob das Paket für ein Mädchen oder einen Jungen bestimmt ist. Die Kinder wissen nicht, wer sie beschenkt hat. Ein Hilfswerk hat die Pakete nach Velica Hoca gebracht. Puppen, Plüschbären und Schokolade machen die Kinderherzen glücklich.      

«Die älteste und wichtigste Kirche in unserem Dorf geht auf das Jahr 1282 zurück», erzählt Pater Milenko. «Von dreizehn in unserem Dorf gebauten Kirchen sind acht aktiv. Velica Hoca lag einst am wichtigen von Westen nach Osten verlaufenden Handelsweg, war deshalb sehr bedeutend. Gold, Silber und Kohle wurden auf den Routen transportiert. In der für Landwirtschaft prädästinierten Gegend wurden viele Geissen und Schafe gehalten. Im 13. Jahrhundert wohnten in der Umgebung 50 000 Menschen. Doch vor den einrückenden Osmanen flüchteten sie nach Nordserbien.» Heute leben 750 Menschen in Velica Hoca, das übersetzt bedeutet: das erhabene Dorf der vielen Priester. Pater Milenko lächelt durch seinen Bart. Seine Frau steht neben dem Kurzwellen-Funkgerät und schickt Weihnachtsgrüsse nach Serbien.










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In der Stadt wächst kein Gras

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Die Kuh lebte einmal in einem Stall in der Schweiz, rannte über grüne Wiesen, frass frisches Gras. Jetzt vegetiert das Tier am Rande der Stadt Dakovica, sucht nach Nahrung – auf der Müllhalde. Die feine Nase schnuppert im Abfall zwischen Trinkflaschen, Verpackungsmaterial, Kartonschachteln und geborstenen Lampen. Die Zähne beissen auf einen milchigen Plastiksack, der Geruch von vermodertem Gemüse und Speiseresten liegt in der Luft. Zwei Wunden klaffen auf dem Rücken des Tieres, geronnenes Blut klebt im braunen Fell.  

Die Schweiz durfte Ende der Neunzigerjahre wegen der BSE-Krise keine Kühe und Rinder in das Ausland ausführen. Trotzdem verliessen 1750 Kühe die Schweiz – in Richtung Kosovo. Die Eidgenossenschaft kaufte im Rahmen der Hilfsaktion «Kühe für Kosovo» Tiere auf. Kritische Stimmen nannten dies eine Umgehung des Exportverbotes, andere sprachen von Entwicklungshilfe. Die Idee war so oder so gut. Die gebeutelten Bauern in der Schweiz erhielten für die Aufzucht der Tiere wieder etwas mehr Geld. Kriegsgeschädigte Bauern im Nordwesten des Kosovo sollten eine Kuh als Existenzgrundlage erhalten, welche die Familie mit Milch versorgen kann.  

Die Reise der Tiere gestaltete sich abenteuerlich: Nicht mit dem Lastwagen, weil die Tiere die vielen tausend Kilometer nicht auf einem Transporter eingepfercht verbringen sollten. Mit einer DC 8 flogen die Kühe von Zürich nach Pristina, wurden im Kosovo den Bauern verteilt, mit der Auflage, dass sie diese die Tiere während eineinhalb Jahren weder verkaufen noch schlachten dürfen. «Mit den Kühen erhalten die oft kriegstraumatisierten Menschen wieder eine sinnvolle Beschäftigung, eine Art Arbeitstherapie. Sie sind dafür sehr dankbar», sagte im Oktober 2000 Niklaus Wallimann vom Schweizer Braunviehzuchtverband vor dem Transport. Auch Hans Rüssli vom Schweizer Bauernverband äusserte sich damals positiv: «Die Kühe werden von den Kleinbauern gut und tiergerecht gehalten». Das Braunvieh von Dakovica gewiss nicht. Das ist vielleicht Einzelfall. Aber einer, der keines einzigen Tieres würdig ist.  

Viele Kleinbauern schauen gut zu ihren Kühen. Die Suche nach geeignetem Futter gestaltet sich jedoch oft schwierig. Fruchtbares Weideland ist rar. 15 bis 20 Liter betrug die Milchleistung der Tiere in der Schweiz. Im Kosovo sind dies deutlich weniger: «Viele Kühe geben hier nur drei bis fünf Liter Milch pro Tag. Die Tiere sind oft verwurmt», sagt Oberstleutnant Dr. Grimm. Der Veterinär betreute für die KFOR während den letzten sechs Monaten des Jahres 2001 landwirtschaftliche Projekte. Die unzähligen Kleinbauern zu beraten ist jedoch sehr schwierig. Erfolgversprechender ist das Projekt in einer früheren Kolchose bei Prizren. In den Stallungen standen einst 3000 Tiere, heute knapp über hundert. Driton Krasnigi hat die kräftigen Tiere für je 1000 Euro in Bayern gekauft und mietet die Gebäude von der Stadt. Die Hygiene ist noch schlecht. Im Stall machen sich bei den Kälbern Krankheiten breit. Das Fachwissen aus Deutschland ist deshalb hochwillkommen, und erste Fortschritte sind bereits zu verzeichnen. Der Bauer und Geschäftsmann investiert in genügend grosse Boxen für die Kälber, sowie moderne technische Installationen und lernt, die Tiere richtig zu ernähren.  

Driton Krasnigi möchte dereinst im Kosovo Frischmilch verkaufen. Bislang wird seine Milch nur zu Joghurts und Käse verarbeitet. Trinkmilch für das Kosovo wird teuer aus Bulgarien angeliefert. Ziel des Veterinärs ist, in den bislang leerstehenden Stallungen einen Musterhof einzurichten. Hier sollen angehende Landwirte ausgebildet werden. Derzeit erhalten diese nur theoretisches Wissen an der Fachschule in Prizren. Im Hof können sie dieses unter fachkundiger Leitung in die Praxis umsetzen.










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Frische Milch und neue Strukturen

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Kritische Blicke ruhen auf dem Glasröhrchen. «Vier Prozent. Das ist gut.» Der Mann prüft den Fettgehalt der Milch und nickt Fatmir zu. Der Bauer stämmt die Milchkanne in die Höhe und leert 20 Liter in den 1300 Liter fassenden Kühlbehälter aus Chromstahl. Der Kassier zückt seinen Kugelschreiber, stellt eine Quittung aus und drückt diese dem 24-jährigen Fatmir in die Hand. Alle zehn Tage bezahlt die Kooperative für die Milch, 30 Eurocent pro Liter. Bei Fatmir wohnen 14 Menschen im Haus, stehen vier Kühe und ein Kalb im Stall. 40 Liter bringt er täglich in die Sammelstelle. Im kleinen Raum wird gesprochen, gelacht. Bauern drängen sich auch diesen Morgen durch die Eingangstür und stellen ihre Kannen auf den Boden. 1000 Liter Milch werden von Klina im Osten des Kosovo täglich nach Prizren geliefert, wo ein Betrieb Yoghurts und Weichkäse herstellt. Die sechs Milchsammelstellen im Süden des Kosovo liefern insgesamt rund 7000 Liter.  

«Die Qualität der Milch ist sehr hoch. Diese Region ist prädestiniert für die Milchwirtschaft», sagt Carlos Neuhauser. Der Österreicher mit brasilianischer Herkunft wohnt seit Jahren in Albanien und arbeitet für das Deutsche Hilfswerk GTZ. Er berät die Bauern und die Betriebe, welche landwirtschaftliche Produkte verarbeiten, organisiert Kredite, hilft bei der Privatisierung, verhandelt zwischen Banken und Bauern. Diese sind froh um seine Erfahrung und schätzen den stämmigen Mann. Er hat auch die Laboreinrichtungen und das Stromaggregat in der Milchsammelstelle bei Klina organisiert. «Nur im Hochsommer haben wir manchmal Probleme mit der Hygiene. Bei zu vielen Keimen in der Milch wird diese sauer», erzählt Neuhauser. Nur die wenigsten Bauern haben ein eigenes Kühlaggregat.  

Früher haben die Bauern selber Käse produziert. Sieben Liter brauchten sie für ein Kilogramm. Doch nur vier Mark erhielten sie auf dem Markt dafür. Bei der Milchsammelstelle verdienen die Landwirte mehr – und sie arbeiten weniger. Immer häufiger schliessen sie sich wieder den Kooperativen an, wie sie schon während der kommunistischen Zeit bestanden haben. Diese ermöglichen den Einkauf von günstigerem Dünger und Futter. Zudem verhilft die Milchwirtschaft zu einem regelmässigen Einkommen, weil der Milchpreis nicht saisonalen Schwankungen unterworfen ist.  

Gemüse schon. Während der Erntezeit bleiben die Bauern auf und neben ihren Produkten sitzen, die Preise fallen in den Keller, die Konkurrenz ist zu gross. «Wir haben Zuckerrüben und Paprika produziert. Doch wir konnten die Podukte nicht mehr absetzen», klagt Fatmir. Dabei sind die Bauern dringend auf Einkommen angewiesen. Viele Arbeiten werden noch von Hand gemacht, Maschinen stehen auf der Wunschliste der Bauern: Traktoren, Mähdrescher, Heubinder, Melkmaschinen.  

«Unserer Kooperative gehören 750 Bauernfamilien in elf Dörfern an. Derzeit leben 40 Bauern von der Milchwirtschaft», sagt Lul Mrijaj, der Obmann der Kooperative Liria Budisalc im Westen des Kosovo. «Früher haben wir 3000 Liter Milch pro Tag gesammelt», erzählt er, doch viele Tiere seien gestohlen oder getötet worden. Früher leitete ein Serbe den Betrieb. Er ist nicht mehr im Land. Heute wollen die Bauern die Kooperative wieder aufbauen, neue Tiere kaufen. «Jeder Bauer möchte sieben bis zehn Kühe im Stall haben, das Land ist fruchtbar», sagt Liria Budisalc. Doch die über 1000 Euro pro Kuh können die Bauern nicht ohne weiteres aufbringen. Und Kredite sind schwer erhältlich und bedingen einen grossen Papierkram. Die Bauern schliessen sich deshalb zu Interessengemeinschaften zusammen, bürgen für das Geld und fordern nur einen Kredit ein – dafür mindestens 50 000 Euro hoch. «Wir glauben an die Zukunft», sagt Fatmir. Sein Vater und seine Brüder bleiben in der Schweiz.










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Vergessene Welt Globočica

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Die Schlaglöcher sind tief. Und breit. Manchmal ist den ausgewaschenen Stellen nicht auszuweichen, und die Reifen des Geländewagens setzen hart auf. Das schluckt keine Federung weg. Sanft setzt sich nur der Staub. Er legt sich auf die Windschutzscheibe, überdeckt die Armaturen, kriecht durch kleinste Ritzen, lagert sich in Kleidern und Lungenflügeln ab. Globočica, auf 1000 Metern über dem Meer, liegt wenige Kilometer entfernt von der albanischen und der mazedonischen Grenze im südlichsten Teil des Kosovo. Im Dorf fehlt der Teerbelag gänzlich, die Steinhäuser sind einfach und gepflegt. Frauen arbeiten im Garten, ein Junge hebt seine Hand zum Gruss, ein Mann schleppt Brennholz herbei. Eine alte Frau näht mit einer dicken Nadel an einem uralten Ledersattel. Sie weiss nicht so recht, ob sie nun zu- oder abwinken soll, als sie die Kameralinse entdeckt.  

Die Bäume werfen lange Schatten. Auf den gegenüberliegenden Bergen ist die Baumgrenze deutlich zu erkennen, die Gipfel sind über 2500 Meter hoch und leuchten goldgelb. In diesem abgeschiedenen Gebiet leben noch Bären – und Goraner. Die Menschen sind islamischen Glaubens und sie verstehen sich deshalb recht gut mit den Albanern. Sie sprechen jedoch eine slawische Sprache wie die Serben. Und die Russen. Sie haben zu einem Essen im Restaurant Belleamie eingeladen. Dort feiern sie den erfolgreichen Abschluss der Arbeiten in einem früheren Minenfeld und den Geburtstag von Boris. Vodkaflaschen kommen auf den Tisch, der Kellner bringt Bitter Lemon, gebratenes Rindfleisch, Weissbrot, Gurken, Tomaten und Fetakäse aus lokaler Produktion. Zwei Einwohner des Dorfes sind ebenfalls eingeladen, sitzen mit am Tisch, sprechen über ihr Volk, die Auswirkungen des Krieges, über Träume und Wünsche.  

«Wir befolgen hier oben alle Auflagen und Gesetze. Wir waren immer zu allen Herrschern loyal», sagt Sehadin Bećiri. «Voraussetzung ist allerdings der Schutz der ethnischen Minderheiten. Wir hoffen deshalb auf internationale Hilfe für unser Volk». Menschen, über die nur wenig bekannt ist. Ein russischer Forscher erwähnte das Bergvolk erstmals Anfang des letzten Jahrhunderts. Ein Volk, das sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neuen Machthabern unterordnen musste. «Wir kennen hier keine Kriminalität. Es gab unter den Goranern seit dem zweiten Weltkrieg keinen Mord mehr», sagt Sehadin Bećiri. Er war früher Richter. Geschossen wurde nur auf die Wölfe. Doch das hat die von der UNO eingesetzte regionale Verwaltung zum Schutz des scheuen Tieres nun verboten.  

«Globočica ist ein emanzipiertes Dorf.» Der frühere Fabrikdirektor Sefer im Adidas-Trainingsanzug sagt das mit Stolz. «1960 erhielten wir die erste Wasserversorgung der Region, auch die Elektrizität hatten wir hier schon früh, und das alles ohne Unterstützung aus Belgrad. 42 Einwohner haben einen Universitätsabschluss. Wir haben viele gut ausgebildete Leute.» Doch viele sind nicht mehr hier. Vor dem Krieg wohnten in Globočica 1100 Menschen, heute nur noch halb so viele. «Sie sind in Serbien, Bosnien, Kroatien, Deutschland, Belgien, Schweiz, Frankreich, überall auf der Welt.» Sefer Tuldari zuckt mit den Schultern.  

Auf dem Fernsehschirm flimmern halbnackte Frauen, die über den Laufsteg schreiten und die Modelle einer fremden Zukunft präsentieren. Die Augen der Männer an der Bar folgen jeder Bewegung. Modeschau in Milano. Die Satellittenschüssel holt die weite Welt in das entlegene Bergdorf. Die Menschen in Globočica wissen nicht, was ihnen die Zukunft bringt. Und der frühere russische Dreisternegeneral lebt auch für eine kurze Zeit in der Vergangenheit. Er hebt das Glas zum Gedenken an die in den Kriegen gefallenen Kameraden. Lautlos wird derer gedacht, getrunken, und 42-prozentiger Sibirskaya nachgeschenkt.










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Der Strassenrand als Müllhalde

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Schwarzer Rauch steigt in den Himmel, neben dem Autowrack brennt Kunststoff – diesmal kein Autounfall. Entlang der Strasse nach Dragas im Süden des Kosovo ist eine unkontrollierte Abfalldeponie entstanden, hunderte Meter lang – eine der unzähligen im Kosovo. An den Strassenrändern der Hauptverbindungsachsen liegen Plastikflaschen, eingeschossene Autos verrosten, Waschmaschinen stehen im Regen, Essensreste stinken vor sich hin. Neben dem Kraftwerk bei Pristina wühlen Katzen im Dreck. Den stattlichen Hund müssen sie nicht mehr fürchten. Auf der Zunge des totgefahrenen Tieres kriechen Maden. Überall Überbleibsel der modernen Zivilisation. Welch ein Gegensatz zu den meist sauber aufgeräumten Innenhöfen! Hinter den hohen Mauern um die Privatgrundstücke herrscht Ordnung, wird das Heim geputzt, mit Blumen geziert. Doch auf der anderen Seite der Backsteine fehlt das Umweltbewusstsein gänzlich. Niemand scheint sich dafür verantwortlich zu fühlen, was ausserhalb der eigenen vier Mauern stattfindet.  

In der Stadt Prizren sind dauernd Müllwagen unterwegs. «Das gibt es auf der ganzen Welt nirgendwo», sagt Hana Canaj, die Direktorin der Abfallentsorgungsfirma Higjiena. «Wir arbeiten im Dreischichtbetrieb, machen täglich zwei Touren durch die Stadt und sammeln dabei durchschnittlich 640 Kubikmeter Müll.» Sie weiss nicht, ob sie nun stolz oder beschämt sein soll. Immerhin, in Prizren liegt weniger Dreck als anderswo. 180 Männer sind darum besorgt, die Strassen sauber zu halten und den Müll wegzuräumen – für durchschnittlich 120 Euro monatlich. Zehn Lastwagen sind in den Strassen und neun Traktoren in den engen Gassen unterwegs. Auch die Zahl der Container ist stark gestiegen, über 200 stehen bereits in der Stadt. Vielfach landen Verpackungen, modernde Paprika und Bauschutt jedoch daneben. Ausserdem sind viele der Container in einem erbärmlichen Zustand. Sie werden angezündet, Autos fahren hinein, und auch die Müllmänner gehen nicht gerade zimperlich damit um. Oft fallen die Metallbehälter aus den Verankerungen der Maschine und werden beim Aufprall auf den Boden zerbeult.  

«Ich appelliere an die Selbstverantwortung der Menschen. Das Bewusstsein, auf die Umwelt zu achten, ist jedoch nicht sonderlich ausgeprägt», sagt Hana Canaj. Ein anderes Problem ist das fehlende Geld: «Nur 20 Prozent der Leute bezahlen ihre Rechnungen», klagt sie. Dabei müssten die Privathaushalte monatlich nur zwei Euro entrichten. Bei den Betrieben in Prizren ist die Zahlungsmoral noch schlechter: nur 13 Prozent kommen ihren Verpflichtungen nach. «Innerhalb von zehn Monaten sind 80 000 Euro ausstehende Beträge aufgelaufen», sagt die Direktorin, die auf das Geld angewiesen ist. Denn die offiziellen Stellen bezahlen immer weniger Subventionen. Das Entsorgungssystem soll sich ja eines Tages mal selbst tragen.  

Das Umweltproblem ist damit noch nicht gelöst. Der Müll wird auf unkontrollierte Deponien gekarrt, dort weder getrennt noch fachgerecht entsorgt. Roma suchen dort im Schutt nach verwertbarem Material. «Gesetze und Vorschriften helfen da wenig», sagt der Engländer Sam Rutherford, verantwortlich für Umweltfragen in der Region Prizren. Er hofft, dass sich das Verhalten der Menschen ändert. «Wir brauchen ein Umdenken. Die Gesellschaft darf solche Umweltsünden nicht mehr akzeptieren.» Während der Müll weiterhin in den Bächen liegen bleibt, fliessen die Millionen aus der EU, um Mülldeponien zu renaturieren, um neue Deponien nach westlichen Standards zu bauen, um streunende Hunde zu töten. Sam Rutherford wird bei seinem ganzen Engagement für die gute Sache manchmal auch wütend. «Wir bezahlen hier 15 Euro, um einen Hund abzuschiessen. Ein Euro für Medikamente würden reichen, um ein Menschenleben in Afrika zu retten. Dieses Geld fehlt.» Aber das ist ein anderes Thema.










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Waffentraining ist kein Schulfach mehr

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«Unser Ziel ist, die Schulausbildung im Kosovo auf europäische Standards zu heben», sagt Fay Woolley. «Doch davon sind wir noch weit entfernt», fügt die Lehrerin aus Australien gleich an. Sie arbeitet bei der «United Nations mission in Kosovo» (Unmik), ist kurz nach dem Krieg hier angekommen und seither in Prizren als Leiterin für den Bereich Ausbildung im südlichen Bezirk zuständig.  

«Im Kosovo haben wir genügend Lehrer. Die Frage ist nur, wie gut sie ausgebildet sind», sagt die engagierte Frau. «Letztes Jahr waren noch 30 Prozent der eingestellten Pädagogen für diesen Beruf unqualifiziert», gibt sie zu bedenken. Das hat verschiedene Gründe: In den Neunzigerjahren durften Albaner nicht mehr unterrichten, 19 000 wurden 1991 von der von Serben geführten Verwaltung im Kosovo entlassen. Die Lehrer führten ihre Arbeit im Untergrund weiter. Über 250 000 Kinder rechneten, schrieben und lernten in Kellern, Moscheen und Wohnungen. Lehrmittel wurden nicht mehr erneuert. Wer konnte, suchte Arbeit im Ausland.  

Die Unmik stellte nach dem Krieg 30 000 Lehrer und Verwaltungspersonal ein, um das Schulsystem möglichst rasch aufbauen zu können. Niemand von den Verantwortlichen wusste jedoch, wieviel Personal die einzelnen Kommunen benötigen. So wurden zu viele Leute engagiert. Gute Lehrkräfte suchten hingegen Arbeit bei der Unmik oder der OSCE, weil sie dort als Übersetzer das Doppelte bis Dreifache verdienen. Ein Universitätsprofessor erhält 250 Euro im Monat – gleich viel wie das Putzpersonal bei den KFOR-Truppen.  

Am Salär wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern, an der Ausbildung schon: Die Lehrer sollen möglichst rasch weitergebildet werden. So hat etwa Kanada ein entsprechendes Fünfjahres-Programm am laufen. «Dieses Projekt scheint recht erfolgreich zu sein», sagt Fay Woolley. Die Lehrer sollen sich von den veralteten Arbeitsmethoden abkehren und nach neuen Gesichtpunkten unterrichten. Kein Frage-Antworte-Runden, sondern Gruppenarbeit, kein Frontalunttericht ab der Wandtafel, sondern anregende Diskussionen im Klassenzimmer. Die Schülerinnen und Schüler sollen ihre Kreativität walten lassen. «Wir brauchen jedoch sehr viel Zeit, um das Schulsystem zu reformieren», sagt Fay Woolley. Die Lehrpläne werden derzeit umfassend erneuert. Das Schulfach «Verteidigung und Sicherheit» steht in den meisten Schulen schon heute nicht mehr auf dem Stundenplan. «Das haben wir sofort gestoppt», sagt Woolley. Trotzdem sind an den Schulen immer noch Waffen zu finden. «In einem Dorf wurden diese kürzlich von der Polizei konfisziert und an die Behörden übergeben. Die Schule stellte daraufhin den Antrag, diese zurückzuerhalten», erzählt die Lehrerin und schüttelt den Kopf.  

Immerhin findet der Unterricht meist wieder in Schulzimmern statt. «80 Prozent der Schulhäuser sind in einem guten Zustand», sagt Fay Woolley. Zwei Drittel der Schulen wurden während dem Krieg oder von den abziehenden Truppen zerstört. Die neuen Räume sind gut belegt. An einigen Schulen wird wegen Platzmangel gar im Dreischichtbetrieb gearbeitet. Unterdessen baut die Unmik ihre Aktivitäten im Kosovo ab: Das Schuletat von 46 Millionen Euro pro Jahr wird drastisch gesenkt, bald soll das Bildungswesen komplett aus Steuereinnahmen finanziert werden. Auch die internationalen Helfer werden bald aus dem Kosovo abziehen. «Wir bereiten uns derzeit auf die Übergabe an lokale Behörden vor. Während der Zeit, die uns noch zur Verfügung steht, tun wir, was wir können. Dann liegt es an den Menschen hier, was sie daraus machen.»  

Die Kinder von heute werden einmal die Verantwortung für das Land übernehmen. Das Kosovo weist die höchste Geburtenrate in Europa auf. Über 50 Prozent der hier lebenden Menschen sind jünger als 20 Jahre.










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Ein Architekt baut an der Zukunft seines Landes

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Er hätte es sich einfach machen können. Als Architekt arbeitete Bujar Nrecaj in einem renommierten Schweizer Architekturbüro. Doch er wollte 2008 nach 17 Jahren zurück in seine Heimat. Um Kindern zu besseren Chancen zu verhelfen, installiert er im Kosovo Bibliotheken auf Schulhöfen.  

«Herzlich willkommen im Kosovo.» Der Händedruck des grossgewachsenen Mannes ist kräftig. Seine Erscheinung ist südländisch, sein Dialekt gehört in die Ostschweiz. Bujar Nrecaj führt zu einem Wohnblock mitten in Pristina, der kosovarischen Hauptstadt. Seine adrette Kleidung will nicht zur Fassade des Hauses passen. Der Hausflur ist dunkel und wirkt etwas heruntergekommen. Der Aufstieg zum Architekturbüro ringt körperliche Anstrengung ab. In der geschäftlich genutzten Wohnung eröffnet sich eine andere Welt. Drei Architekten und ein Bauingenieur sitzen in einem Zimmer konzentriert an ihren Computern. Bujar Nrecaj bittet in sein Büro. Die Büchergestelle sind voller Fachliteratur. An der Wand hängen computergenerierte Bilder von Bauten. Das Kartonmodell eines Hotelkomplexes lässt ein grosses Bauprojekt erahnen. Ein Schweizer will im Kosovo investieren. Doch das wichtigste Projekt des 36 jährigen Architekten ist durch Entwicklungsgelder finanziert: Bujar Nrecaj nimmt ein weiss gestrichenes Holzmodell vom Büchergestell, einen Kubus mit Flächen, Öffnungen, kreuz und quer verleimten Plättchen. «Damit bin ich zum kosovarischen Bildungsministerium und von Botschaft zu Botschaft gegangen, um meine Idee zu präsentieren. Manche Leute meinten, ich hätte einen Taubenkäfig gebaut.» Bujar Nrecaj lacht bei dieser Erinnerung. Er hatte Grösseres vor. Er wollte in den tristen kosovarischen Schulhöfen Bibliotheken bauen, für Schulkinder, damit diese lesen, sich ihnen eine neue Welt erschliesst, womit die Neugierde geweckt wird, in allen Gemeinden, im ganzen jungen Land. Doch er wurde abgewimmelt, auf einen späteren Termin vertröstet, nicht zu den Entscheidungsträgern vorgelassen, zwei Monate lang. Im Herbst 2008 erhielt er schliesslich eine Viertelstunde in der norwegischen Botschaft und warb einmal mehr für seine Vision. «Das ist eine hervorragende Idee, Sie haben unsere Unterstützung, eventuell im Januar 2009», so das Fazit des Botschafters nach dem kurzen Besuch. «Ich dachte, er wolle mich loswerden. Doch im Januar wurde der benötigte Betrag überwiesen», erzählt Bujar Nrecaj. Am 5. Mai 2009 wurde die erste Bunateka eröffnet. Überzeugt von der Realisation der ersten Bunateka, sagte der norwegische Botschafter an der Eröffnungsrede, dass er den Bau von zwei weiteren Bunateka unterstütze.  

«Die Kinder sollen Lesen als etwas Positives erleben und nicht als Zwang verstehen. Es soll ihnen Spass machen. Die Bunateka ist wie ein Regal, das gleichzeitig den Raum bildet. Dort werden die Bücher aufgestellt. Das Regal wird zum Fenster mit dem Bezug zur Umgebung, zur Weite. Die Bibliothek als auch die Bücher sollen von allen Seiten sichtbar sein, entfernt von der Schule mit den monotonen Räumen, einer grauen Welt, in denen die Lehrer autoritär unterrichten, aber oft nicht viel mehr wissen als ihre Schüler. In der Bunateka sollen die Kinder eintauchen in eine neue Welt.» Symbole haben Bujar Nrecaj inspiriert. «Wie der Brunnen im Hof eines Hauses das Leben symbolisiert, nimmt die Bunateka diese Position im Schulhof ein. Sie ist die Quelle des Wissens. Eine Schule ohne Bibliothek macht keinen Sinn. Der Name Bunateka entstand durch das Wortspiel burim für Quelle, bunar für Brunnen und biblioteka für Bibliothek.»  

Ausgesucht von Bujar Nrecaj sowie einer Buchhandlung in Pristina, stehen 600 bis 800 Bücher in einer Bunateka: Literaturwerke, Enzyklopädien, Sachbücher über Kunst, Natur, Musik, Technologie und Sport. «Hier sollen alle ein Buch für sich finden können», erklärt der Architekt seine Vision. 3500 Euro budgetiert er für die Bücher. 14 500 Euro sind für das heimische Tannenholz, die Fenster aus Glas und die Bauarbeiten kalkuliert. «Während meiner ersten fünf Jahre Primarschule im Kosovo hatten wir gar keine Bücher. Doch Bücher beflügeln die Fantasie. Es ist wichtig, dass mit Büchern und Lesen Kindheitserinnerungen gestaltet werden, denn diese begleiten einen durch das ganze Leben. Ich denke, dass man durch Lesen auch das kritische Denken entwickelt, was für die kosovarische Gesellschaft sehr wichtig ist. Das ist eine Chance für eine neue Entwicklung im Land.» Bujar Nrecaj denkt in grossen Dimensionen. 866 Bunateka möchte er bauen, in jeder Primarschule im ländlichen Gebiet des Kosovo, unabhängig davon, welcher Volksgruppe die Schülerinnen und Schüler angehören.  

«Mein Vater arbeitete als Gastarbeiter in der Schweiz. Mit dem Bus kam ich im Alter von 12 Jahren mit meiner Mutter, meinem Bruder und zwei Schwestern in Weinfelden an, am 24. März 1991 um 13.30 Uhr. Das war eine schwierige Zeit.» Es blieb eine schwierige Zeit. Sprachprobleme, Pubertät, Identitätskrise, Schulprobleme. «Ich habe immer die Verbindung in den Kosovo gesucht und mich zwischen zwei Welten gefühlt», erzählt Bujar Nrecaj. Sein Vater wollte, dass er Zahntechniker wird. Sein Onkel sah ihn eher als Informatiker. Doch sein Wunsch war, Architekt zu werden. Unterstützt von seinem Lehrer, fand er nach der Realschule eine Lehrstelle als Hochbauzeichner in Rorschach. Sein Bezug zum Kosovo blieb bestehen. «Ich habe meine Heimat vermisst und das in der Schule und in meinem Freundeskreis immer wieder thematisiert. Ich habe Bücher von albanischen Poeten gelesen, habe Konzerte besucht, oftmals ein Gedicht über albanische Auswanderer vorgetragen.» Nach der Berufslehre absolvierte Bujar Nrecaj die Berufsmatura und studierte an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur Architektur. Er fand in einem renommierten Architekturbüro eine Stelle. Und er dachte immer an seine Heimat, die er mindestens einmal pro Jahr besucht hatte. «Während der 17 Jahre in der Schweiz habe ich mich zwar integriert, mich aber nie zu Hause gefühlt. Vom Lebensstil her war ich Schweizer. Aber ich fühlte mich nicht dazugehörig.» Im Februar 2008 zeichnete sich immer mehr ab, dass der Kosovo die Unabhängigkeit erklärt und sich endgültig von Serbien-Montenegro löst. «Das beschäftigte mich innerlich sehr. Ich wollte bei diesem Prozess dabei sein, hatte aber eigentlich aufgrund der vielen Arbeit im Büro keine Zeit. Nur eine Kollegin aus Deutschland hatte Verständnis für meine Lage. Sie bereut noch heute, dass sie damals den Mauerfall in Berlin nicht selber miterlebt hat.» Sie spornte ihn an: «Bujar, geh.» Er ist mit Swiss geflogen. Am Samstag, 16. Februar, landete er um 9.30 Uhr in Pristina. «Ich bin so glücklich, richtig entschieden zu haben, denn die Unabhängigkeit wurde am Sonntag, 17. Februar 2008, um 15.45 Uhr erklärt. Da waren so viele Emotionen. Überall wurden festliche Lieder angestimmt. Alle haben getanzt. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele glückliche Gesichter an einem Ort gesehen. Das war einer meiner schönsten Tage überhaupt.» Zurück in der Schweiz, zwei Wochen später, eröffnete er seinem Arbeitgeber, der Familie, seinen Freunden seinen Entscheid – und erntete überall Unverständnis. Am Donnerstag, 3. April 2008, landete er wieder in Pristina. Ohne Rückflugticket. «Die Rückkehr war gefühlsmässig heftiger, als ich mir das vorgestellt hatte. Zwar wusste ich von den Stromausfällen, der Wasserknappheit, der anderen Denkweise der Menschen, der Oberflächlichkeit und den unüberlegten Entscheiden. Doch ich erlebte die grossen Kontraste hautnah. Ich bestellte im Internet meine Lebensmittel, die mir umgehend vor die Türe gebracht wurden, und daneben suchte eine Frau in einem Container nach Essbarem.» Bujar Nrecaj zog für zwei Monate zu seinen Grosseltern im Süden des Kosovo und richtete in einem kleinen Zimmer sein Büro ein. Dort ist auch sein Modell für die Bunateka entstanden. In der Hauptstadt Pristina mietete er sich eine Wohnung und Räumlichkeiten für sein Architekturbüro. «Ich dachte, ich hätte sofort Erfolg.» Er brauchte dafür drei Jahre.  

«Ich habe meine Rückkehr in den Kosovo nie bereut, auch wenn meine Familie diesen Schritt lange nicht verstanden hat», sagt Bujar Nrecaj mit bestimmter Stimme.









        


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Ein Land im Umbruch

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Bujar Nrecaj sitzt am Steuer seines koreanischen Geländewagens und fährt aus Pristina Richtung Westen, um eine seiner Bibliotheken im zwei Autostunden entfernten Dorf nahe der albanischen Grenze zu zeigen. Überall stehen Baukräne, entstehen breitere Strassen, werden ganze Wohnquartiere in die Höhe gezogen. Einige Investoren wollen ganz hoch hinaus, was zumindest die Bilder auf den Plakaten versprechen. Ein Land im Umbruch auf der Suche nach einer neuen Identität – und mit grossen Problemen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 30 Prozent, die Wirtschaft kommt nicht in Schwung, Komfort und Luxus werden geliehen und mit exorbitanten Zinsen zurückbezahlt. Industrie ist im Kosovo kaum angesiedelt. Die Umweltverschmutzung ist riesig. Die Perspektiven fehlen. Es scheint, als hätten die ruhmreichen Freiheitskämpfer zwar ihren Sieg errungen, wissen jedoch als immer noch glorifizierte Politiker nicht, was sie mit der gewonnenen Freiheit anfangen sollen.  

«Kosova hat sich sehr verändert. Heute zählt nur noch Business. Das ist sehr schade. Wir hatten eine schöne und reiche Kultur. Viel davon ist zerstört worden. Die Menschen sind nicht mehr so freundlich. Und obwohl das kosovarische Volk als optimistisch eingeschätzt wird, habe ich davon nicht viel gemerkt. Die Leute müssen selbstbewusster werden und eine eigene Meinung haben.» Zwar sei nach dem Kosovokonflikt unter der Verwaltung unterschiedlicher Missionen sehr viel Geld in den Kosovo geflossen, aber in die falschen Projekte und damit nicht nachhaltig. Auch den Politikern gibt er keine guten Noten. Viele seien nur darum bemüht, wahlwirksam von einem Plakat zu lächeln und ein schönes Auto zu fahren, machten sich aber keine Gedanken darüber, was dem Land langfristig hilft. Die Korruption sei weit verbreitet, vieles läuft über Beziehungen, die Bürokratie sei katastrophal. «In der Schweiz habe ich immer den albanischen Patriotismus und die Liebe zum Land bewundert. Hier sehe ich, dass sich viele gar nicht für das Volk einsetzen, sondern sich nur um den eigenen Profit kümmern. Es fehlt an nachhaltigen Ideen. Die Leute sollen aus dem Ausland zurückkommen, um ihr Land aufzubauen.» Traurig stimmt Bujar Nrecaj vor allem, dass die noch vorhandene Aufbruchstimmung und die damit verbundenen Chancen verloren gehen. «Dann wird jeder nur noch für sich schauen.» Trotzdem gesteht Bujar Nrecaj seinem Land viele Möglichkeiten zu. «Es gibt noch viel zu tun. Kosova bietet in vielen Bereichen einen grossen Raum für neue Ideen und Investitionen. Landwirtschaft und Tourismus haben auch grosses Potenzial.»  

Die verschneiten Berge, welche die Grenze zu Albanien bilden, steigen schroff aus der Ebene hervor. Die Natur erwacht nach einem kalten Winter. In den Dörfern herrscht emsiges Treiben. An einem Ort neben der Hauptstrasse stehen noch Gerippe aus Stahlbeton, dazwischen geborstene Ziegel steine, Schutthaufen, schwarze Wände, Überbleibsel des Krieges von 1999, Ruinen, für die sich niemand zuständig fühlt. «Wir haben viele junge Leute, die sehr kreativ sind», fährt Bujar Nrecaj fort. «Wir sind das jüngste Volk in Europa. Jedes Jahr drängen 40 000 Menschen in den Arbeitsmarkt. Es ist eine enorme Energie vorhanden. Nur wenn neue Kräfte kommen und diesen von der Politik auch der notwendige Raum gegeben wird, haben wir eine Zukunft. Kosovo kann die ‹Perle des Balkans› werden. Sehr viele Menschen aus dem Kosovo leben heute in ganz Europa, haben sich entwickelt und viel erreicht. Sehr viele Länder und Organisationen sind im Kosovo vertreten. Diese Beziehungen müssen wir nutzen. Jetzt.» Bereits heute zieht Bujar Nrecaj für sich eine positive Bilanz. «Ich habe diesen Schritt nie bereut, obwohl die Leute hier zu mir sagten: ‹Wir wollen alle in die Schweiz, und du kommst zurück.›»  

Eine mit Löchern gespickte Naturstrasse führt zum Schulhaus etwas ausserhalb des Dorfes. Einige Kinder spielen auf dem Sportplatz noch Fussball, die meisten sind zu Hause. Das Dorf liegt bereits im Schatten der Berge. Nur der Direktor mit weissem Hemd und Anzug wartet geduldig, grüsst herzlich, weist in Richtung des Holzquaders neben seinem Schulhaus inmitten von vier Föhren und beginnt gleich zu erzählen. 500 Schüler im Alter von 5 bis 16 Jahren besuchen seine Schule. Und er ist sichtlich stolz, dass gerade seine Institution im Jahr 2010 mit einer Bunateka bedacht worden ist, der fünften. «Wir hatten zwar früher eine Bibliothek, doch diese ist im Krieg verbrannt.» Bujar Nrecaj steht im lichtdurchfluteten Kubus mit Flächen, Öffnungen, kreuz und quer verleimten Holzlatten. Genau wie sein Modell, nur viel grösser. Im Regal stehen all die Bücher und ein Bild von der Eröffnungszeremonie – mit dem Architekten, dem Botschafter und dem Schuldirektor. «Dieses Geschenk der Bunateka wird von Generation zu Generation geehrt werden», sagt der Schuldirektor. Er holt eine Flasche Schnaps aus seinem Büro, giesst grosszügig ein und lächelt verschmitzt.









        

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Mein Dank und Respekt gilt allen Menschen im Kosovo, die über ihren Militäreinsatz, ihre Arbeit und ihr Leben erzählt haben, die Einlass in ihr Haus gewährt haben – und diese Worte und Bilder überhaupt ermöglichten.  

Herzlichen Dank für das mir entgegengebrachte Vertrauen an alle beteiligten Kosovo-Albaner, Serben, Roma, Goraner, Mazedonier, Deutschen, Schweizer, Franzosen, Italiener, Dänen, Engländer, Türken, Amerikaner und Russen.



© Fotos und Texte Robert Hansen 2001/2015
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